Das Lied der Klagefrau
lagen im ersten Stock, wobei sich in dem einen, des guten Lichts wegen, die einzige Operationsbettstelle befand. Für die Luftventilation sorgten acht eiserne Öfen, was zu wenig war und in manchen Räumen zu abgestandener Luft und übler Feuchtigkeit führte.
Ein weiterer Nachteil war das Fehlen von fließendem Wasser; das frische Nass musste eimerweise aus einem siebenundzwanzig Fuß tiefen Brunnen im Hof heraufgeholt und mit dem Trageholz mühsam ins Haus geschafft werden. Auch der Wasserabfluss war schlecht, weil es kein ausreichendes Gefälle zur Straße gab.
»Wir haben fünfzehn Betten, Herr Doktor«, sagte Hasselbrinck, als sie nach dem Rundgang wieder im Erdgeschoss angelangt waren, »immer zwei in einer Kammer, bis auf den Patientensaal oben, da stehen mehr drin, aber das habt Ihr alles ja selbst gesehen. Sind ein bisschen eng und dunkel, die Kammern, und niedrig sind sie auch, aber was will man machen. Die Kammern sehen alle gleich aus, ob da nun Frauen oder Männer drin liegen. Frauen und Männer liegen natürlich getrennt. Und mit der Ansteckung ist es auch so eine Sache, wenn einer gefährlich krank ist, haben es bald auch die anderen. Na ja, ist eben so. Jetzt erzähle ich Euch noch, was im Haus zu tun ist: Jeden Tag muss der grobe Schmutz weggeräumt werden, ob das nun Verbandsreste sind oder verlorene Sachen von den Besuchern oder sonst was. Dann müssen die Zimmer mit feuchtem Flusssand bestreut werden und anschließend ausgefegt werden, ein Mal im Monat muss der Boden gescheuert und gewaschen werden, und wenn er mit Blut, Eiter und Urin verschmutzt ist, muss das natürlich auch weggewaschen und gehörig mit Essig besprengt werden – es sei denn, die Patienten können es selber machen. Dasselbe gilt natürlich auch, wenn ein Botschamper umgefallen ist.«
»Äh, ja.« Abraham fragte sich, was ein »Botschamper« sein könne, kam dann aber darauf, dass damit wohl ein
Pot de chambre,
ein Nachttopf, gemeint war.
»Die Nachtstühle müssen auch geleert und gespült werden, zweimal am Tag, wozu sie vorher rausgetragen werden sollen. Wenn ein Patient das Hospital verlässt oder ein Kranker gestorben ist, muss seine Matratze an die frische Luft gebracht werden und ausgeklopft und im Bedarfsfall auch ausgewaschen werden. Die Matratzen haben gute Qualität, sind mit Pferdehaaren gestopft und nicht mit Rehhaaren. Rehhaare klumpen zu leicht.«
»Ich verstehe.«
»Die Betten werden alle vierzehn Tage frisch bezogen, die schmutzige Wäsche macht meine Frau, zusammen mit der alten Grünwald. Die alte Grünwald hat oben über der Remise ein kleines Zimmer, dahin zieht sie sich manchmal zurück, deshalb habt Ihr sie noch nicht gesehen. Die alte Grünwald und meine Frau besorgen auch das Kochen, die
Victualien
sind nicht gerade was für feine Gaumen, aber von Hafergrütze, Reis, Perlgraupen, Mehl und so was in der Art ist immer ausreichend Vorrat da.«
»Aha, sehr schön.« Abrahams Achtung vor Hasselbrinck wuchs, der Mann hatte viel Verantwortung und ein gewaltiges Tagespensum.
»Die Arzneien für die Kranken müssen auch noch täglich verteilt werden.«
»Und das ist sicher ebenfalls Eure Aufgabe, nun, über mangelnde Arbeit scheint Ihr Euch nicht beklagen zu können«, scherzte Abraham.
Hasselbrinck blieb ernst. »Nein, Herr Doktor, aber wenn Ihr die Arzneien lieber selbst geben wollt …«
»Wir werden sehen. Wenn das fürs Erste alles ist, würde ich gern eine Stube oder eine Kammer haben, in der ich mich während meines Dienstes aufhalten kann.«
»Jawoll, Herr Doktor. Der Herr Professor hat gesagt, Ihr sollt die Stube vom Doktor Stromeyer bekommen, jedenfalls so lange, bis er wieder da ist.«
»Das ist mir recht. Ist das die Stube gegenüber dem Patientensaal?«
»Jawoll, Herr Doktor.«
Kurz darauf stand Abraham im Raum des Hospitalarztes und sah sich um. Wie überall war auch hier die Einrichtung spartanisch. Tisch, Stuhl, Bett, das war schon alles. Ein Panorama-Kupfer der Stadt Göttingen an der Wand, eine Standuhr und ein Regal mit Fachliteratur kamen noch dazu. Auch ein abgeschlossenes Schränkchen hing da, wahrscheinlich mit den persönlichsten Habseligkeiten Stromeyers.
Abraham trat an das Regal mit der Literatur und studierte die Buchrücken. Neben Richters Werken, von denen ihn am meisten die
Abhandlung über das Ausziehen des grauen Stars
interessierte, fielen ihm noch
De Causis Pestis
des Vitus von Campodios auf, der
Tractatus de Herebis et de Lapidibus
des Teodorus Rapp, des
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