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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Person.
    »Das hat es. Ich werde jetzt nach Hause gehen und dort einige Dinge erledigen. Falls etwas sein sollte, wisst Ihr, wo Ihr mich findet. Ich werde gegen drei Uhr zurück sein.«
    »Jawoll, Herr Doktor«, sagte Hasselbrinck.
    Abraham stand auf und registrierte mit Genugtuung, dass seine Tischgenossen sich aus Höflichkeit ebenfalls erhoben. Es ist doch sonderbar, dachte er, was so ein Doktortitel alles ausmacht. Aber Hand aufs Herz, Julius Abraham, unangenehm ist es dir nicht.
    Er trat hinaus auf die Geismarstraße, hielt sich auf der rechten Seite und schritt nach Norden. Der Weg entlang den Häusern war wie überall sehr schmal, umso mehr, als fast vor jedem Gebäude eine Fußbank stand, die es dem Hausbesitzer erlaubte, beim Heimkommen bequem sein Schuhwerk zu säubern. Er war in Gedanken schon bei Alena, als er plötzlich einen älteren
Burschen
im dunkelblauen Rock auf sich zukommen sah. Es war der Pommeraner. Der Kerl trug wie üblich seine volle Montur, nur mit dem Unterschied, dass ihm diesmal noch ein Hieber an der Seite hing. Fast alle landsmannschaftlich organisierten Studenten trugen einen solchen Degen, die meisten zur Zierde, einige wenige jedoch nutzten ihn auch für Duelle, obwohl Zweikämpfe jeglicher Art vom Prorektor verboten worden waren. »Sieh da, der Puppenspieler und Possenreißer, der ein Medikus werden will!«, rief der Kerl mit breitem Grinsen. »Mach Platz, Possenreißer, oder ich renne dich über den Haufen!«
    Abraham hatte angehalten und versuchte, ruhig zu bleiben. »Mein Name ist Julius Abraham«, sagte er, »ich bin
Philistrant
und gehöre der medizinischen Fakultät an – genau wie Ihr. Wer seid Ihr, dass Ihr mir den Weg verbauen wollt?«
    »Ah, der Possenreißer ist neugierig. Nun denn, Reinhardt von Zwickow ist der Name. Und jetzt Platz da, Possenreißer!«
    Auf Abrahams Stirn entstand eine steile Falte. »In Göttingen gilt immer noch das Gassenrecht, und das ist eindeutig: Wer die Straße zur Rechten hat, weicht aus, in diesem Falle Ihr. Ich darf also bitten.«
    »Ich darf also bitten«, äffte von Zwickow Abraham nach. »Was bildest du dir eigentlich ein? Wer bist du eigentlich? Ein kleiner Bauchredner, der schmutzige Witze erzählt, mehr nicht.«
    »Wenn Ihr Streit sucht, sucht Euch einen anderen. Was wollt Ihr überhaupt von mir?«
    »Ich will, dass Abschaum wie du nicht studiert.«
    »Daran werdet Ihr nichts ändern können.«
    »Die Welt soll bleiben, wie sie ist. Wenige sind oben, viele sind unten. Das war immer so. Du bist unten. Wo kämen wir hin, wenn jeder hergelaufene Puppenspieler als Arzt auf die Menschheit losgelassen werden könnte.«
    »Genug der Unverschämtheiten.« Abraham ließ alle Höflichkeit fahren. »Nun werde ich dir sagen, wer du bist: Du bist ein kleiner, dummer Junge, mehr nicht.« Er hatte seine Worte mit Bedacht gewählt, denn »kleiner, dummer Junge« galt als eine der stärksten Beleidigungen unter Studenten.
    In von Zwickows Augen blitzte es auf, vor Wut und vor Triumph, denn er hatte Abraham genau da, wo er ihn haben wollte. »Nimmst du das zurück?«
    »Ich denke nicht daran.«
    »Dann fordere ich dich zum Duell! Ich werde dir dein vorlautes Maul stopfen!«
    Abrahams Mundwinkel zuckten verächtlich.
    »Als Possenreißer kennst du vielleicht die Regeln nicht, also höre: In Göttingen ist der Hieb
Comment,
komm mir also nicht mit Pistolen oder anderen Waffen. Ich warte auf den Termin durch deinen Sekundanten, und vergiss nicht: Ich habe den Aushieb, den ersten Schlag also, und das Recht, Satisfaktion zu nehmen. Sorge für einen geeigneten Ort, einen Mediziner und zwei Zeugen!«
    »Ich werde für gar nichts sorgen«, sagte Abraham. »Deine Herausforderung kannst du dir an den Hut stecken.«
    »Ah, ich habe es also nicht nur mit einem Puppenspieler und Possenreißer zu tun, sondern auch mit einem Feigling!«, höhnte von Zwickow.
    »Nenn es, wie du willst.« Abraham trat entschlossen einen Schritt vor, so dass er von Zwickow Nasenspitze an Nasenspitze gegenüberstand. Er suchte den Blick seines Widersachers und hielt ihn fest. »Und nun scher dich fort.«
    »Feigling, Jammerlappen, Hosenscheißer!«
    »Seitdem ich Student bin, kämpfe ich nur mit den Augen. Scher dich fort.«
    »Hasenfuß, Drückeberger!«
    Abraham schaute weiter – unbewegt und furchtlos.
    »Du … du!« Von Zwickow wandte den Kopf zur Seite, er schien sich geschlagen zu geben. Dann, ohne jegliche Vorwarnung, zog er den Hieber, holte aus und wollte ihn seinem

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