Das Lied der Klagefrau
Gesundheitszustand war zum Glück nicht besorgniserregend, zumal beide bei Abrahams Eintreten einen mit Pistazien verfeinerten Napfkuchen verzehrt hatten – vermutlich ein Geschenk der Kollegen aus der Backstube.
Ein Zimmer weiter lag ein Zinngießer. Warners, so hieß der Mann, war wegen Schwindelanfällen eingeliefert worden. Richter hatte ihn eingehend untersucht, aber nichts Ungewöhnliches feststellen können. Warners konnte einwandfrei sehen, hatte keine Kopfschmerzen, einen regelmäßigen, guten Appetit und einen normalen Stuhl. Der Verdacht lag nahe, dass er sich ein paar freie Tage auf Kosten der Armenkasse gönnen wollte, aber wer ihn ansah und mit ihm sprach, kam bald zu einem anderen Schluss. Warners war ein höflicher, freundlicher Mann, Familienvater obendrein und stolzer Besitzer einer kleinen Manufaktur. Er konnte es sich gar nicht leisten, blauzumachen. An den Rand seines Journals hatte Richter hingekritzelt:
abwarten, manches heilt die Natur selbst.
»Gute Besserung, Warners«, sagte Abraham.
»Danke, Herr Doktor. Wisst Ihr eigentlich, dass ich Euch kenne?«
»Tatsächlich?« Abraham kramte in seinem Gedächtnis, aber er konnte sich nicht erinnern, Warners je gesehen zu haben.
»Kennen ist vielleicht zu viel gesagt, aber meine Frau ist mit der Witwe Vonnegut befreundet, und die Witwe hat einiges über Euch erzählt.«
»So, was denn?«
»Nur Gutes, Herr Doktor, nur Gutes.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Abraham kam sich recht leutselig vor, nickte freundlich und wandte sich dem vierten und letzten Krankenzimmer zu. Hier lag die einzige weibliche Patientin, ein altes Mütterchen, das unter Gichtanfällen litt. Ihr Name war Lampert, Anna-Maria Lampert. In ihr kleines Gesicht hatte der Schmerz tiefe Furchen gegraben. Abraham nahm das Journal zur Hand und stellte erleichtert fest, dass kein Blut in ihrem Harn festgestellt worden war. Ansonsten waren alle Anzeichen des Zipperleins vorhanden. Die alte Lampert hatte verdickte, entzündete Gelenke und die verräterischen Knoten am Ohrknorpel, weshalb ihr Leiden auch Knotengeißel genannt wurde.
»Wer seid Ihr?«, ächzte Mutter Lampert.
»Mein Name ist Abraham, ich sagte es vorhin schon, ich vertrete ab jetzt Doktor Stromeyer.«
»Ach ja, jaha.«
»Ich sehe, Ihr bekommt Weidenrindentee gegen die Schmerzen und Absude vom Giersch zur Therapie, aber Ihr spürt dennoch große Pein, habe ich recht?«
»J… ja, Herr Doktor.«
»Ich werde versuchen, etwas
Laudanum
für Euch aufzutreiben, für dieses Mal jedenfalls. Ihr dürft nicht zu viel und nicht zu oft davon nehmen, sonst gewöhnt der Körper sich daran. Sollten die Anfälle morgen nicht abgeklungen sein, wird Hasselbrinck Eure Gelenke mit eiskaltem Brunnenwasser kühlen. Auch das hilft gegen Schmerzen. Wie steht es mit dem Appetit?«
»Ach, ach. Ich mag nichts.«
»Ihr müsst essen. Leichte Kost, Suppen, Obst, Gemüse und Ähnliches. Kein Fleisch, kein Fett, kein Alkohol. Nicht einmal Wein.«
»Danke … Herr Doktor.«
»Nun versucht, ein wenig zu schlafen.« Abraham verließ die Kammer, ging zu Hasselbrinck und gab ihm die nötigen Anweisungen wegen des
Laudanums.
Es war unterdessen schon weit nach zwölf Uhr, und Hasselbrincks Frau erschien und fragte, ob der Herr Doktor nun das Mittagessen einnehmen wolle. Sie habe heute Morgen frischen Fisch aus Seeburg erhalten, dazu gebe es Pellkartoffeln und Salz, nichts Außergewöhnliches, aber der Fisch sei sehr bekömmlich.
»Ich nehme dankend an«, sagte Abraham, der eigentlich zu Hause mittagessen wollte, aber er hatte das Gefühl, Hasselbrincks Frau nicht gleich am ersten Tag enttäuschen zu dürfen. Während der Mahlzeit, die im Übrigen sehr schmackhaft war, nutzte er die Gelegenheit, um den Speiseplan der Patienten mit Hasselbrincks Frau genau abzusprechen. Dabei zeigte sich, dass die alte Lampert abends jeweils ein Glas Rotwein erhalten hatte, »um den Schmerz zu dämpfen«, wie Hasselbrinck erklärte. Abraham wies darauf hin, dass Wein für Gichtkranke Gift sei, und ordnete an, dass die Verabreichung von Rotwein von Stund an zu unterbleiben habe. Hasselbrinck und seine Frau versprachen es, und die alte Grünwald, die aus ihrer Kammer über der Remise hervorgekommen war, sicherte es ebenfalls zu – allerdings erst auf mehrfache Nachfrage, denn sie war ziemlich schwerhörig.
»Ich danke für das leckere Essen«, sagte Abraham.
»Hat es Euch wirklich geschmeckt, Herr Doktor?«, fragte Hasselbrincks Frau, eine schmale, verhuschte
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