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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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oh, Liebster, Liebster, oooh …!«
    »Pssst.« Abraham, der den Augenblick der höchsten Lust um einiges früher erlebt hatte und dabei selbst fast aufgeschrien hätte, zog Alenas Kopf zu sich herab und küsste ihre Augen.
    Heiser flüsterte er: »Es ist vorbei, aber es ist auch ein neuer Anfang, und noch immer hast du die schönsten Augen der Welt.«
    »Das war ein liebes Kompliment.« Sie küsste ihn ebenfalls, lange und leidenschaftlich. Und ebenso dankbar wie er. Dann lachte sie plötzlich auf.
    »Was ist, Liebste?«, fragte Abraham verdutzt.
    »Ich dachte gerade daran, dass wir bestimmt einige Äpfel zerquetscht haben.«
    »Zerquetscht?« Abraham musste ebenfalls lachen. »Das sollte mich nicht wundern. Weißt du was, wir legen sie einfach in die Schreibtischschublade der Witwe.«
     
     
    Am nächsten Morgen verließ Abraham beschwingten Schrittes das Haus in der Güldenstraße, wandte sich nach rechts, bog in die Geismarstraße ein und strebte dem südlichen Stadttor entgegen, wo das Akademische Hospital, auch »Richters Hospital« oder einfach »Hospiz« genannt, lag. Ihm war bekannt, dass die segensreiche Einrichtung seit 1781 bestand und ihre Existenz der Initiative seines Professors zu verdanken hatte. Richter war, was wenige wussten, Freimaurer in der Loge
Augusta zu den drei Flammen.
    Vor 1781 war der Zweck des Gebäudes nicht ganz so segensreich gewesen, denn seine Mauern beherbergten über viele Jahre das Wirtshaus
Zu den Sieben Thürmen.
    Da vorn lag das Hospital schon. Es war ein zweistöckiger Fachwerkbau mit Walmdach, schmalen hohen Fenstern und einem vier Stufen hoch gelegenen Eingang in der Mitte. Am rechten Außenflügel befand sich ein größeres Tor, Abraham vermutete, dass dahinter die Remise war. Während er rüstig weiter ausschritt, überprüfte er noch einmal den Sitz seiner Kleidung. Er trug zwar nichts anderes als sonst, nämlich Rock und Hose aus schwarzem Nankinett, dazu ein einfaches weißes Leinenhemd, dessen Kragen einen schlichten Spitzensaum aufwies, aber Alena hatte es sich nicht nehmen lassen, alles noch einmal gründlich aufzubügeln.
    Alena … Ein zärtliches Gefühl überkam Abraham, als er an sie dachte. Sie war wirklich eine außergewöhnliche Frau. Klug, hübsch und leidenschaftlich. Und überdies sehr verständnisvoll, denn nachdem er mit ihr gestern den Keller verlassen hatte, waren sie natürlich prompt der Witwe begegnet, die noch immer in der Küche saß – eingenickt über Kaffee und Kuchen. Alena war sofort klar gewesen, dass Abraham sie zuvor angeschwindelt hatte, als er behauptete, die Hausherrin sei bei einer Nachbarin, aber ihre Augen hatten ihn nur leicht belustigt angesehen. Die Witwe hingegen war völlig ahnungslos und umso erfreuter, als Abraham drei Gläser auf den Tisch gestellt und Wein eingeschenkt hatte. »Zur Feier des Tages«, wie er erklärt hatte, bevor er von seiner Anstellung im Akademischen Hospital berichtete.
    Nun stand er vor dem Eingang. Er drückte die Klinke nieder und trat ein. Der Vorraum war dunkel und karg möbliert, er erkannte zwei Schränke, deren massive Türen ihren Inhalt verbargen, eine Kleidertruhe mit verrosteten Beschlägen, zwei, drei Stühle und rechts dahinter eine Stiege, die in den Keller hinabführte. Abraham ging weiter und gelangte auf einen langen Gang, der quer durch das gesamte Haus verlief. Vor ihm führte eine Treppe in den ersten Stock, und links daneben lag eine Kammer, aus der Stimmen drangen. Abraham öffnete die Tür, klopfte gegen den Pfosten und wünschte höflich »Guten Morgen«.
    »Guten Morgen, Abraham.« Drinnen stand Richter, wie immer die Hände hinter dem Rücken gefaltet, und unterhielt sich mit einem kleinen, drahtigen, schnauzbärtigen Mann. »Ich darf Euch Hasselbrinck, den Hospitalwärter, vorstellen. Daneben seht Ihr seine liebe Frau.«
    »Guten Morgen«, sagte Abraham nochmals.
    »Hasselbrinck, Ludwig«, sagte Hasselbrinck überflüssigerweise, trat einen halben Schritt vor und verbeugte sich zackig. Seine Frau deutete einen Knicks an.
    Richter fuhr, zu Abraham gewandt, fort: »Ich habe Hasselbrinck schon umfassend informiert, er weiß, wer Ihr seid und dass Ihr Doktor Stromeyer in allem vertretet.«
    »Vielen Dank«, sagte Abraham, dem darauf nichts anderes einfiel.
    Richter deutete auf einen Stuhl, einen Scheibtisch und mehrere Regale, die von Papieren überquollen, und sagte mit jovialem Unterton: »Wir stehen hier in Hasselbrincks Reich, es ist sozusagen das Herz des Hospitals,

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