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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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nicht wahr, Hasselbrinck?«
    »Jawoll, Herr Professor.«
    »Kommt, Abraham, ich zeige Euch, welchen Papierkram Ihr beaufsichtigen und abzeichnen müsst.« Richter trat an den Schreibtisch und erklärte die Grundzüge des Hospitalbetriebs. Er zeigte das Aufnahmeregister, in das jeder Neuzugang eingetragen und wieder ausgetragen werden musste, dazu Tabellen über die am häufigsten auftretenden Krankheiten und deren Therapieschritte, holte Aufzeichnungen über Geschlecht, Familienstand, Durchschnittsalter und Herkunft der Patienten hervor, verwies auf Untersuchungen, aus denen deutlich wurde, welcher Berufsstand zu welchen Krankheiten neigte, präsentierte Abrechnungen über die Einkäufe von Speisen, Instrumenten und Ausstattungsgegenständen, ferner ein
Inventarium
über sämtliche Gerätschaften, dazu Rechnungen über laufende Reparaturen sowie Korrespondenzen mit der Universität und den Behörden der Stadt, gab Auskunft über Einnahmen und Ausgaben, stöhnte ein wenig über die ständig steigenden Preise und sagte schließlich: »Das Wichtigste aber, mein lieber Abraham, sind die Krankenjournale. Jeder Patient hat ein eigenes Journal, in das alles eingetragen wird, was im Rahmen seiner Behandlung notwendig ist, und zwar so lange, bis er – oder sie – hoffentlich gesund entlassen wird. Und dieses Journal führt allein Ihr. Genauigkeit ist dabei das A und O, denn ich will die Journale in regelmäßigen Abständen für die wissenschaftliche Veröffentlichung drucken lassen. So weit, so gut. Alles andere macht mehr oder weniger Hasselbrinck. Nicht wahr, Hasselbrinck?«
    »Jawoll, Herr Professor.«
    »Hasselbrinck wird Euch auch über seinen eigenen Aufgabenbereich informieren sowie über den seiner lieben Frau, denn das kann er selbst am besten, nicht wahr, Hasselbrinck?«
    »Jawoll, Herr Professor.«
    »Schön, damit ist alles geklärt. Über die Kranken, die im Moment hier liegen, ich glaube, es sind fünf oder sechs, müssen nicht viele Worte verloren werden. Wenn Ihr sie Euch anschaut, werdet Ihr feststellen, dass sie an nichts Außergewöhnlichem leiden. Tja, ich glaube, das wär’s. Möge Asklepios, der Gott der Heilkunst, mit Euch sein. Ich werde versuchen, jeden Tag einmal vorbeizuschauen und nach dem Rechten zu sehen. Im Übrigen verlasse ich mich ganz auf Euch. Einen schönen Tag noch allerseits.« Richter hob grüßend die Hand und verschwand.
    Abraham stand da und kam sich ein wenig verlassen vor. Zu abrupt hatte Richter sich empfohlen. Zum ersten Mal beschlichen ihn ernste Zweifel, ob er der Aufgabe gewachsen sein würde. Er wusste zwar, dass er sich auf seine erworbenen Kenntnisse verlassen konnte, sowohl in der Medizin als auch in der Chirurgie, er wusste auch, dass im Zweifelsfall der erfahrene Professor zur Stelle sein würde, aber dass alle Verantwortung plötzlich allein auf seinen Schultern ruhte, war ein neues, belastendes Gefühl.
    »Äh, hm.« Hasselbrinck räusperte sich. »Wenn’s beliebt, Herr Doktor, zeige ich Euch jetzt das Haus.«
    »Ihr braucht mich nicht mit ›Herr Doktor‹ anzureden, so weit ist es noch nicht. Abraham genügt.«
    »Bin’s aber so gewohnt. Bin von Anbeginn dabei. Habe immer ›Herr Doktor‹ zu den Vorgesetzten gesagt, ist besser so, sorgt für klare Verhältnisse.«
    »Nun ja.« Abraham beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, es war sicher nicht gut, gleich in den ersten Minuten auf dem eigenen Willen zu beharren. »Ihr habt gedient, nicht wahr?«
    »Jawoll, Herr Doktor.« Hasselbrinck straffte sich. »War bis zu meiner Pensionierung Soldat, habe im Mündener Infanterieregiment gedient.«
    »Ich war auch Infanterist, allerdings im preußischen Freikorps von Kleist und habe anno 62 in der Schlacht von Freiberg gekämpft.«
    »Was Ihr nicht sagt.« In Hasselbrincks Augen trat so etwas wie Bewunderung. Damit, dass der neue »Doktor« ein ehemaliger Soldat war, sicher ein hochdekorierter, hatte er nicht gerechnet. »Dann seid Ihr bestimmt auch König Friedrich, dem Alten Fritz, begegnet?«
    »Ich habe ihn mehrfach gesehen. Einmal half er mir sogar aus einer vertrackten Situation.«
    »So was aber auch.« Noch immer beeindruckt, sagte Hasselbrinck: »Ich geh dann mal vor. Frau, du kannst wieder in die Küche, der Herr Doktor braucht dich jetzt nicht.«
    In der nächsten Stunde lernte Abraham nahezu jeden Quadratzoll des alten Gebäudes kennen. Er erfuhr, dass es insgesamt zwei Säle, sieben Stuben, neun Kammern, eine Küche und einen Keller gab. Die Säle

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