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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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muss Alena verstehen«, hatte der Schultheiß hinzugefügt. »Sie fühlt sich sehr verletzt.«
    Das Burgfräulein war noch weiter gegangen: »Verletzt? Pah, sie fühlt sich belogen und betrogen!
Infam,
wie du dich benommen hast, Abraham.«
    »
Absurdité,
Kokolores, du alte Vettel!«, hatte Friedrich der Große gekräht. »Ein braver Kerl ist jeder Weiblichkeit abhold, und die Pompadour und Maria Theresia waren sowieso die größten Huren Europas!«
    »Aufhören!«, hatte Abraham mit seiner eigenen Stimme gerufen. Ihm war die Lust vergangen, auch noch die Meinung des Landmannes und der Magd zu erfahren.
    Während er seine Schritte weiter nach Süden in Richtung Geismartor lenkte, kam das Akademische Hospital, das von allen nur kurz »Richters Hospital« oder »Hospiz« genannt wurde, in Sicht. Doch er nahm es kaum wahr. Er grübelte über sein Verhältnis zu Alena und zu Henrietta nach. Beide, das wurde ihm klar, nahmen einen Teil seines Herzens in Anspruch, wobei der größere Teil zweifellos Alena gehörte. Doch das würde er ihr niemals so sagen dürfen. Ach, Alena … wie viel weißt du, wie viel ahnst du? Wie viel muss ich dir verschweigen, damit alles wieder so wird wie früher?
    Er betrat das Hospital und sah links neben der Treppe Hasselbrinck in seiner Bürokammer sitzen. Der Kopf war ihm vor Müdigkeit auf die Brust gesunken, sein Schnäuzer war der brennenden Kerze sehr nahe. Auf leisen Sohlen trat Abraham heran und rückte die Kerze etwas beiseite. Spätestens wenn sie ausging, würde Hasselbrinck erwachen.
    Er stieg die Treppe empor und tat einen Blick in den Patientensaal. Pentzlin, Burck und Gottwald lagen wie immer da. Steif und scheinbar ohne Leben. Abraham spürte einen Stich der Enttäuschung, sie so zu sehen. Aber was hatte er erwartet? Hatte er wirklich geglaubt, nach der Behandlung mit dem Elektrophor würden sie ihm die Köpfe zuwenden und ihm einen guten Abend wünschen?
    Er nahm sich vor, am nächsten Tag die Versuche fortzusetzen, dabei die Spannungsstöße stärker zu variieren und die Reibungsgeschwindigkeit mit dem Fell deutlich zu erhöhen. Dann ging er in Stromeyers Stube, die er mehr und mehr zu seinem eigenen Arbeitsraum gemacht hatte, und beschäftigte sich mit seiner Dissertation. Es würde nicht schlecht sein, einen Sonderparagrafen über die einzusetzenden Entkrampfungsmittel vor Augenoperationen einzufügen. Professor Richter war wie alle Doktorväter auch nur ein Mensch: Er würde es begrüßen, zumindest einen Teil seiner Ausführungen in dieser Arbeit wiederzufinden.
    Abraham griff zur Feder. Er beschrieb die Herstellung der spasmenlösenden Tropfen – dazwischen immer wieder an Alena und Henrietta denkend –, zählte die gängigsten Kräuter zur Verwendung auf, wie Baldrian,
Valeriana officinalis,
Schlafmohn,
Papaver somniferum,
Mistel,
Viscum album,
und das Schwarze Bilsenkraut,
Hyoscyamus niger.
Über der näheren Beschreibung des Bilsenkrauts kam er zu den Orten, an denen es anzutreffen war, und über die Orte wiederum kam er zu den unterschiedlichen Bezeichnungen dieser verbreiteten Heilpflanze: Apolloniakraut, Dolldill, Dullkraut, Hühnertod, Rasewurz, Saukraut, Tollkraut, Zahnkraut, Zigeunerkraut, Schlafkraut …
    Als Abraham erwachte, herrschte Dunkelheit um ihn herum. Genau wie Hasselbrinck musste er über seiner Arbeit eingeschlafen sein. Er tastete nach einer neuen Kerze und entzündete sie mit einiger Umständlichkeit. Dann lauschte er. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Das allein war noch nicht ungewöhnlich. Es gab viele Geräusche in der Nacht – nur dieses war fremd. Es klang hart, war unregelmäßig und dann wieder ganz verschwunden. Und es kam, wenn er sich nicht täuschte, aus dem Patientensaal.
    Aus dem Patientensaal?
    Abraham schoss hoch – und mahnte sich gleich darauf zur Mäßigung. Für den Fall, dass sich einer der Bergleute wirklich aus dem Bett erhoben hatte, war sicher Zurückhaltung geboten. Der Patient durfte auf keinen Fall erschreckt werden! Vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend – und dabei die knarrenden Dielen verwünschend –, strebte er der Stubentür entgegen, öffnete sie und schob sich auf den Gang hinaus. Der Gang war die genaue Entprechung zu dem im Erdgeschoss, und genau wie dieser wies er am westlichen Ende ein rundes Fenster auf, durch das ein Schimmer der Göttinger Nachtbeleuchtung fiel.
    Und vor dem Fenster sah er schemenhaft eine Gestalt, die auf ihn zukam!
    Bevor er etwas unternehmen konnte,

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