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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sie wieder?«
    »Das weiß Gott allein. Aber sicher nicht schon morgen, eher übermorgen oder überübermorgen. Zwischen Göttingen und Kassel sind’s nur fünfundzwanzig Meilen, aber wenn das Schicksal es will, werden daraus tausend.«
    »Wie meint Ihr das?«
    »Wie ich es sage. Der Franz war jedenfalls sehr verzweifelt.« Die Witwe beugte sich vor. »Und wenn du’s genau wissen willst: Alena auch.«
    »Alena verzweifelt? Wie soll ich das verstehen?«
    »Nun, du kennst mich, Julius. Ich mach aus meinem Herzen keine Mördergrube, und das
qu’en dira-t-on
interessiert mich nicht. Wenn ich jemanden mag, dann sag ich’s ihm, und wenn ich jemanden nicht mag, dann sag ich’s ihm auch. Erst recht, wenn er seine Frau betrügt. Dann gefällt er mir überhaupt nicht. Und wenn er dann noch Julius Abraham heißt, dann hab ich ein gewaltiges Hühnchen mit ihm zu rupfen.«
    Klingenthals Herz begann zu klopfen. »Wollt Ihr damit etwa sagen …?«
    »Genau das will ich.«
    »Das ist lächerlich.«
    »Mach mir nichts vor! Ich weiß, dass du gestern Abend bei deinem Kommilitonen Heinrich warst und dass dieser Heinrich in Wahrheit eine Frau ist. Henrietta heißt sie und ist blond. Und wie es der Zufall will, hat Alena heute Morgen zwei lange blonde Haare an deinem Gehrock gefunden.«
    »Das ist doch …!« Abraham rang um Fassung.
    »Sag jetzt nicht, dass alles ganz harmlos ist.«
    »Doch, doch, das ist es! Es ist nichts passiert. Es ist …« Abraham unterbrach sich. Er sah ein, dass er mit der Wahrheit herausrücken musste, denn die Witwe kannte ihn viel zu gut, als dass sie sich hätte täuschen lassen. Andererseits würde es fatal sein, die Wahrheit in allen ihren Einzelheiten zu erzählen. »Es ist nichts passiert, nichts, was Henriettas oder meine Ehre verletzen würde.«
    »Und was ist mit der Ehre deiner Frau? Wenn du die in den Schmutz gezogen hast, gehörst du ins Halseisen gesteckt! Da bin ich altmodisch, Julius.«
    »Aber es ist doch nichts geschehen!« Abraham kam sich vor wie ein kleiner Junge beim elterlichen Verhör. Das ärgerte ihn. Andererseits fühlte er sich keineswegs wohl in seiner Haut. Auch wenn es zwischen Henrietta und ihm nicht zum Äußersten gekommen war, so hatten sie sich doch immerhin leidenschaftlich geküsst. War das schon Ehebruch? Nein, dazu bedurfte es der geschlechtlichen Vereinigung, und die hatte nicht stattgefunden. Gottlob, wenn man es recht bedachte.
    »Wenn ich das nur glauben könnt, Julius.« Die Witwe klang nicht mehr ganz so streng.
    »Wenn Alena Euch alles erzählt hat, dann wisst Ihr auch, dass Henrietta an dem Abend sehr verweifelt war, weil es ihr als Frau nicht möglich ist, zu studieren. Sie hat sich mir als Frau offenbart und sich in ihrer Verzagtheit an meine Schulter gelehnt. Dabei müssen ein paar ihrer Haare haften geblieben sein.«
    »Und das ist schon alles?«
    »Sie hat sehr geweint.«
    »So, hat sie das?«
    »Ja, so wahr ich hier sitze.«
    »Das arme Ding. Nun, ich halte nicht dafür, dass das schwache Geschlecht unbedingt die Universitäten
pöpliren
muss, denn eine Frau, die das Herz auf dem rechten Fleck hat, ist allemal so viel wert wie ein Mann.«
    »Dem will ich nicht widersprechen, Mutter Vonnegut.«
    »Dass wir uns recht verstehen, Julius: Ich glaub dir, weil ich dir glauben möcht. Sieh ja zu, dass du die Sache mit Alena ins Lot bringst, sobald sie wieder da ist.«
    »Ja, Mutter Vonnegut.«
    Abraham erhob sich, wurde aber von der Witwe zurückgehalten. »Wenn du jetzt hinaufgehst, wundre dich nicht. Alena ist zu mir nach unten gezogen. Sie wollt mit dir nicht mehr das Bett teilen – jedenfalls vorläufig nicht.«
    »Was? Das ist doch …«
    »Das ist ganz verständlich.« Die Witwe zögerte einen Augenblick, ob sie Abraham von Alenas Schwangerschaft erzählen sollte, doch sie entschied sich dagegen, auch wenn es ihr in der Zunge kribbelte. »Und nun will ich in die Küche.«
    »Ja, Mutter Vonnegut.«
    »Die Teller, die sich von selbst abspülen, sind noch nicht erfunden.«
     
     
    Schon eine halbe Stunde später war Abraham wieder auf dem Weg ins Hospiz. Ohne Alena war ihm die Decke auf den Kopf gefallen, und das, obwohl seine Puppen ihm Mut zugesprochen hatten. »Mach dir nichts draus, Kamerad«, hatte der Söldner gesagt, »das ist nur ein Scharmützel, du wirst die Festung wieder stürmen.«
    Und der Schiffer hatte gemeint: »Nach Schwerwetter kommt Schönwetter. Wenn die Wogen sich erst mal geglättet haben, weht wieder ein neuer Wind.«
    »Man

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