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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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war sie zur Treppe gelaufen. Abraham wollte ihr nach, besann sich dann aber. Was war, wenn es sich tatsächlich um einen der Bergleute handelte? Vorsicht war in jedem Fall geboten. Es hieß nicht umsonst, dass man sich zu Tode erschrecken konnte. Der Herzstillstand oder die
Kardioplegie
waren gar nicht so selten, wie mancher annahm. Vorsichtig pirschte er sich zur Treppe und blickte hinunter. Niemand war dort zu sehen.
    Abraham zögerte einen Augenblick, was als Nächstes zu tun war. Sollte er die Treppe hinunterlaufen oder in den Patientensaal sehen? Die Sorge um seine Anbefohlenen gab den Ausschlag. Er blickte durch die Tür und sah alle drei dort liegen. Das konnte nur eines bedeuten: Keinen von ihnen hatte er auf dem Gang gesehen. Und das wiederum bedeutete, dass es jemand aus dem Hospital gewesen sein musste: Hasselbrinck? Der saß sicher in seiner Kammer und schlief weiter den Schlaf des Gerechten. Die alte Grünwald? Kaum vorstellbar. Ihre Kammer lag am anderen Ende des Gangs. Hasselbrincks Frau? Sehr unwahrscheinlich. Am ehesten kam noch Warners in Frage. Dem ging es insgesamt recht gut. Ein Ausflug durch das Haus war ihm durchaus zuzutrauen. Außerdem hatte Abraham ihm von dem Experiment mit dem Elektrophor erzählt. Vielleicht hatte er sich das Gerät ansehen wollen und es hier oben gesucht. Nein, auch das war zu weit hergeholt. Und trotzdem …
    Abraham stieg die Treppe hinab, um nach Hasselbrinck zu sehen. Wie erwartet, saß der Krankenwärter noch schlafend an seinem Tisch. Die Kerze war nahezu abgebrannt, sein Schnäuzer hatte denselben Abstand zur Flamme wie vorhin. Der Mann hatte sich also keinen Zoll bewegt. Abraham weckte Hasselbrinck und sagte: »Dafür, mein lieber Hasselbrinck, dass Ihr hier sogar noch im Schlaf die Stellung haltet, werdet Ihr nicht bezahlt. Ich schlage vor, Ihr geht zu Bett.«
    Hasselbrinck murmelte etwas von »immer im Dienst«, fand den Gedanken, in den Federn zu liegen, aber viel zu verlockend, als dass er lange protestiert hätte. Abraham begleitete ihn ein Stück und verabschiedete sich, bevor er schlurfend das winzige Gemach, das er sich mit seiner Frau teilte, betrat. Im Fortgehen hörte er ihre verschlafene Stimme: »Weißt du eigentlich, wie spät es ist …«
    Nein, auch Hasselbrincks Frau war sicher nicht die forthuschende Gestalt gewesen.
    Abraham ging zurück und schaute in Warners Kammer. Der Zinngießer lag in seinem Bett, die Decke bis ans Kinn gezogen. Abraham überlegte. Wenn Warners wirklich schlief, wollte er ihn nicht stören. Oder tat er nur so? Vielleicht, vielleicht auch nicht.
    Unschlüssig ging Abraham wieder nach oben in den ersten Stock und den Gang entlang, bis er die Kammer der alten Grünwald erreicht hatte. Da er um ihre Schwerhörigkeit wusste, klopfte er nicht an, sondern trat gleich ein. Zu seiner Überraschung lag sie nicht im Bett, sondern saß in einem Armstuhl und blätterte im
Journal des Luxus und der Moden,
welches in Weimar erschien und sich vielerorts großer Beliebtheit erfreute. »Guten Abend!«, rief er.
    Die Frau schreckte auf und griff zu einem schwarzen Hörrohr. »Wenn Ihr da reinsprecht, braucht Ihr nicht so zu schreien, Herr Doktor.« Sie hielt das Hörrohr seitlich nach unten, so dass Abraham sich bücken musste, um ihrem Wunsch zu entsprechen. »Wart Ihr gerade auf dem Boden?«
    »Nein, Herr Doktor.«
    Trotz Hörhilfe war Abraham nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte, deshalb wiederholte er seine Frage, wobei er das Wort »Boden« besonders betonte.
    »Nein, nein, Herr Doktor, nicht Boden,
Moden
heißt’s!
Journal des Luxus und der Moden!
« Sie hielt ihm die Titelseite der Zeitschrift unter die Nase.
    »Das sehe ich!«
    »Dann ist es gut. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Das Journal ist wirklich sehr interessant. Wenn Ihr hineinseht, werdet Ihr lesen, dass der Dreispitz immer mehr vom Zweispitz abgelöst wird, jedenfalls beim Militär. Auch Gelb ist sehr im Kommen, natürlich nur bei den Damen. Strohhüte, Stoffe und Gürtel werden in Frankreich jetzt zunehmend in Gelb gefertigt. Bis es bei uns so weit ist, vergehen wohl noch ein paar Jahre. Ja, mit der Mode ist es ein eigen Ding …«
    »Gute Nacht!«, schrie Abraham und entfernte sich. Während er seine Schritte zum Patientensaal lenkte, wurde ihm deutlich, wie leicht man andere Menschen fehleinschätzte, nur weil sie alt und schwerhörig waren. Beides traf zweifellos auf die Grünwald zu – und trotzdem war sie an Mode interessiert, worauf er, wenn er es

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