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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Phänomen zu leiden, ebenso, wie die Schnarcher sich am Morgen an nichts erinnern konnten und stets abstritten, zu den nächtlichen Sägern zu gehören. »Ihr wart also in der letzten Nacht nicht auf dem Gang oben im ersten Stock?«
    »Nein, gewiss nicht. Warum sollte ich?«
    »Schaut auf meinen Zeigefinger. Seht Ihr ihn doppelt oder dreifach?«
    »Nein, Herr Doktor.«
    »Gut.« Abraham ließ den Finger vor Warners Augen hin und her wandern und beobachtete dabei seine Pupillen. Sie machten jede Bewegung mit. »Sehr schön.« Abraham trat einen Schritt zurück. »Und nun dreht Euch dreimal schnell um die eigene Achse.«
    Warners gehorchte. Er wiederholte die Übung sogar noch einmal, wobei er etwas außer Atem geriet, ansonsten aber nicht das Gleichgewicht verlor.
    »Verspürt Ihr ein Schwindelgefühl?«
    »Nein.« Warners strahlte.
    »Mir scheint, Ihr seid wirklich wieder gesund. Die Selbstheilungskräfte der Natur haben sich segensreich ausgewirkt. Ihr könnt nach Hause gehen und wieder Eure Arbeit aufnehmen. Sollte die
vertigo
jedoch erneut auftreten, kommt ihr sofort zurück, das müsst ihr mir versprechen.«
    »Hoch und heilig, Herr Doktor.«
    Eine Stunde später zog Warners glücklich von dannen, nachdem er bei Hasselbrinck die Hospitalrechnung in barer Münze beglichen hatte. Seine Frau und die Kinder hatten ihn abgeholt und Abraham immer wieder für seine Bemühungen gedankt, was diesen nicht wenig in Verlegenheit brachte, denn im Grunde hatte er nichts zur Heilung beigetragen.
    Als Warners mit den Seinen fort war, blieb er nachdenklich zurück. Die
Somnambulie
und ihre Symptome ließen ihn nicht los. Er ging hinauf in seine Stube und überlegte weiter. »Warum komme ich eigentlich erst durch Warners darauf, dass auch Pentzlin, Burck und Gottwald Anzeichen des Schlafwandelns zeigen könnten?«, murmelte er. »An alles und jedes habe ich gedacht, aber daran nicht. Zwar spricht einiges gegen diese Diagnose, aber auch einiges dafür. Dafür spricht, dass alle drei wie ein Schlafwandler die Augen geöffnet haben, dagegen spricht, dass sie bisher noch keinen Schritt gegangen sind. Doch halt …« Abraham unterbrach sich. »Wenn nun einer der drei die schemenhafte Gestalt gewesen war? Gottwald vielleicht, mit seinem seltsam verdrehten Kopf? Doch nein, das ist Unsinn. Ich habe den Unbekannten die Treppe hinunterhasten sehen, anschließend in den Saal geschaut und alle drei Patienten erblickt. Es kann keiner meiner Bergleute gewesen sein. Also doch vielleicht Warners?«
    Abraham nahm sich die Krankenjournale vor. Seinen ursprünglichen Erkenntnissen hatte er noch nichts Entscheidendes hinzufügen können. Dort stand nach wie vor bei jedem:
… Die fünf Sinne scheinen gestört. Es mag sein, dass der Patient fühlen, hören, sehen, riechen und schmecken kann, aber es ist ihm nicht anzumerken. Vermuteter Grund: Apathie. Vielleicht auch Paralyse des
Cerebrums.
    Das gestrige – von Heinrich angefertigte – Protokoll über die Auswirkungen des Elektrophors und die damit verbundenen Vermutungen ergänzte er um eine weitere Hypothese:
Unter Berücksichtigung aller Symptome kann auch das Phänomen der
Somnambulie
nicht ausgeschlossen werden. Zwar hat der Patient sich bisher nicht aufgerichtet, geschweige denn einen Schritt getan, wie es für Mondsüchtige typisch ist, doch ist dies für die Zukunft keineswegs auszuschließen.
    Er seufzte. Die Tatsache, dass er seine Eintragung insgesamt dreimal machen musste, zeigte ihm einmal mehr, wie sehr er mit seinen Vermutungen noch im Dunkeln tappte. Er wollte die Feder erneut ins Tintenfass tauchen, um abschließend auszuführen, dass das Verhalten des Patienten in dieser Hinsicht weiter beobachtet werden müsse, doch eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Er fuhr herum: »Alena …?«
    »Ich bin es.« Heinrich stand da, wie immer adrett und hübsch gekleidet. Er trug eine bordeauxrote Uniformjacke und enge weiße Hosen, dazu blankgewichste schwarze Stiefel mit silbernen Schnallen. Seine braune Perücke mit dem Titusschnitt passte gut zur Farbe der Jacke – und zu seinem leicht geröteten Gesicht. »Ich war gerade in der Nähe, und da dachte ich …«
    »Was dachtest du?« Abraham sah ihn an. In ihm arbeitete es. Einerseits hatte sein Herz einen Sprung getan, als er Heinrich sah, andererseits war der Gedanke, Alena könnte zurück sein, mindestens ebenso angenehm gewesen. »Musst du nicht über deinen Büchern sitzen?« Die Worte klangen strenger als

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