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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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recht bedachte, auch vorher hätte kommen können, denn sie war stets einfach, aber tadellos gekleidet. In jedem Fall aber war davon auszugehen, dass auch sie für die Schattengestalt nicht in Frage kam.
    Abraham öffnete die Tür zum Patientensaal und entzündete eine von der Decke herabhängende Laterne. In ihrem Licht sah er die drei Bergleute liegen – Pentzlin am Fenster, Burck in der Mitte und Gottwald an der Tür. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie immer, nur Gottwald hatte seine Lage verändert. Er hatte seinen Kopf zur Tür hingedreht und schien ihn aus seinen seelenlosen Augen anzustarren. Abraham erschauerte. Welch makabrer Anblick! Und doch mochte er etwas Positives enthalten – wenn man bedachte, dass Gottwald sich zweifellos bewegt hatte. Somit hatte auch der dritte der Bergleute eine Regung nach dem Versuch mit der Influenzmaschine gezeigt. Verspätet zwar, aber immerhin.
    Abraham trat näher. »Gottwald, könnt Ihr mich hören?«
    Wie erwartet, erhielt er keine Antwort. »Gottwald?« Einen Augenblick wusste Abraham nicht, was er tun sollte. Dann tat er das Naheliegendste: Er drehte Gottwalds Kopf zurück, bis seine Nasenspitze wieder zur Decke wies. Anschließend eilte er nach unten zu dem Arzneienschrank, in dem die Medikamente des Hospitals verschlossen waren, holte etwas
Ammoniumcarbonat
hervor, eilte wieder nach oben und hielt Gottwald etwas von dem Riechsalz unter die Nasenlöcher. Zufrieden beobachtete er, wie die Atemtätigkeit kräftiger und die Gesichtsfarbe rosiger wurde.
    Er setzte sich wieder auf den Bettrand, um sich zu vergewissern, dass Gottwald auch weiterhin regelmäßig Luft schöpfte. Während er dasaß, kreisten seine Gedanken um den Elektrophor und die seltsame Reaktion, die das Gerät hervorgerufen hatte. Eines schien klar: Bei seinen nächsten Versuchen musste er noch behutsamer vorgehen, als ohnehin schon beabsichtigt. Er wusste nicht, wie ernst der Zustand Gottwalds gewesen war, doch immerhin ernst genug, um den Vorfall nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
    Abraham stand auf, löschte die Laterne und suchte seine Stube auf, wo er sich ein Nachtlager auf dem Dielenboden ausbreitete und bald darauf todmüde einschlief.
     
     
    »Warners, wie fühlt Ihr Euch heute Morgen?« Abraham stand in der Kammer des Zinngießers und sah gespannt auf ihn herab.
    »Nicht schlecht, Herr Doktor.« Warners schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. »Seht Ihr, mir ist überhaupt nicht mehr schwindelig.«
    »Und wie steht’s mit dem Appetit?«
    »Ich habe einen Bärenhunger.«
    »Schön, glaubt Ihr, wieder ganz auf dem Posten zu sein?«
    »Ich hoffe es, Herr Doktor.«
    Abraham blickte Warners direkt ins Gesicht. »Könnte es dann sein, dass Ihr in der vergangenen Nacht einen kleinen, äh, Ausflug gemacht habt?«
    »Ich, einen Ausflug? Aber ich war doch im Bett!« Warners Stimme klang so verblüfft, dass seine Reaktion zweifellos echt war. Aber das musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Abraham setzte nach: »Leidet Ihr womöglich unter
Somnambulie?
«
    »Wie meinen?«
    »Verzeihung, das könnt Ihr nicht wissen. Ich spreche von der Mondsucht. Manche nennen das Phänomen auch Schlafwandeln oder Nachtwandeln. Dabei verlässt der Schlafende das Bett, ohne aufzuwachen, geht umher, verrichtet vielleicht sogar diese oder jene Tätigkeit und legt sich anschließend wieder hin. Er muss dabei sehr tief schlafen, denn noch niemals ist es vorgekommen, dass sich ein Somnambuler am anderen Morgen an die Ereignisse erinnert hat.«
    »Wenn das so ist, Herr Doktor, könnte ich Euch auf Eure Frage, ob ich letzte Nacht einen Ausflug gemacht habe, gar keine Antwort geben.« Warners blickte treuherzig.
    »Da habt Ihr recht. Aber Ihr könntet mir die zweite Frage beantworten: Leidet Ihr unter
Somnambulie?
«
    »Wie soll ich das wissen, wenn ich mich an nichts erinnern kann?«
    »Eure Frau könnte Euch beobachtet haben. Es sind immer die engsten Verwandten oder Freunde, die dem Somnambulen von seinen nächtlichen Spaziergängen berichten. Sie sind es auch, die stets versichern, dass er weder durch Ansprache noch durch Geräusche aufzuwecken ist. In einer Art scheinbarer Zielstrebigkeit wandelt er hin und her, bevor er sich wieder zu Bett begibt, dabei die ganze Zeit ein völlig ausdrucksloses Gesicht zur Schau tragend.«
    »Ich bin nicht mondsüchtig, Herr Doktor.« Warners klang etwas beleidigt.
    »Nun gut.« Abraham wusste, dass die meisten Schlafwandler es nicht wahrhaben wollten, unter diesem

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