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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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auf rechter Straße um Deines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein …«
    Alena musste sich konzentrieren, um nicht den Faden zu verlieren, denn jetzt erschien wohl ein halbes Dutzend Menschen auf einmal, alle brennende Kerzen in den Händen, und zu ihrer Überraschung waren auch Franz’ Schwestern dabei. Sie stellten sich an die Seite des Halbkreises, der sich mittlerweile vor der Tür des Kleinen Salons gebildet hatte. Sie achtete nicht mehr auf die Herbeiströmenden, die den Gang mehr und mehr füllten, sie sah vielmehr ihre Gesichter, und auf diesen Gesichtern sah sie Freude und Zuversicht. Viele murmelten die Verse des dreiundzwanzigsten Psalms mit, denn die unvergänglichen Worte Davids, des Königs Israels, hatten sie gepackt. Und unter den vielen Gesichtern entdeckte sie jetzt auch die drei Diener von Franz’ Schwestern. Sie hatten zwar keine Kerzen dabei, doch immerhin waren sie dazugekommen.
    »Du segnest uns und unsere Kinder, denn sie sind Deine Gabe und werden von Dir beschirmt. Du ließest sie gebären, um das Herz der Väter weit zu machen, sie sind die tausendfache Auferstehung des immer Neuen, die Erneuerung des Guten, die ewige Hoffnung. Sie kommen nackt und bloß auf die Welt, wie weiland Dein Sohn Jesus Christus in der Krippe zu Betlehem, und in ihnen leben wir Menschen weiter – vom ersten bis zum letzten Atemzug.«
    Alena predigte noch eine ganze Weile weiter, und sie spürte den Widerhall, den ihre Worte fanden. Dann machte sie abermals eine Pause und rief: »Und nun wollen wir singen das Lied:
Barmherziger, lass Deiner Gnade …
«
    Sie stimmte kräftig an:
    »Barmherziger, lass Deiner Gnade
    jetzt dieses Kind befohlen sein,
    das wir im heil’gen Wasserbade
    auf Deines Sohns Befehl Dir weihn …«
    Sie war ziemlich sicher, dass viele das Lied kannten, denn es stammte aus der Feder des berühmten Kirchenlieddichters Benjamin Schmolck – ebenso, wie sie sicher war, dass auch Johann Heinrich Mylius drinnen im kleinen Salon das Lied erkennen würde, denn es war jenes, von dem er gesagt hatte, es wäre zur Taufe seines ersten Sohnes Georg angestimmt worden.
    »… Erfüll an ihm, was Du verheißt,
    Gott Vater, Sohn und Heil’ger Geist.«
    Sie sang auch noch die zweite Strophe mit ihrer Gemeinde, rein und klar, und ihr Blick lag dabei unverwandt auf der Tür zum Kleinen Salon. Danach forderte sie ihre Gemeinde auf, ein jeder möge beide Hände um seine Kerze legen und mit ihr beten: »Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiliget werde Dein Name, Dein Reich komme …«
    Sie beendete das Gebet mit einem lauten Amen und schaute abermals auf die Tür. Als sich noch immer nichts regte, stimmte sie ein weiteres Lied an. Es war ihr Klagelied, das schon unzähligen Trauernden Trost gebracht hatte. Es war ein Stück nach der Melodie
Christus, der ist mein Leben
von Melchior Vulpius, und seine Verse erfüllten die Luft über dem Lichtermeer im Gang:
    »Am Ende stehn wir stille
    und säen Tränensaat;
    des Heilands mächt’ger Wille
    sich hier erwiesen hat.
    Am Ende stehn wir stille,
    die Toten ruhen wohl,
    denn vivat heißet lebe
    und valet lebe wohl …«
    Fast alle kannten den Text, und diejenigen, die ihn nicht kannten, summten ihn mit, doch alle spürten die tröstende Wirkung der altehrwürdigen Zeilen.
    »Am Ende stehn wir stille
    vor seiner großen Macht;
    des Heilands mächt’ger Wille
    wohl über allem wacht …
     
    Am Ende stehn wir stille
    und sind in guter Hut;
    des Heilands mächt’ger Wille,
    er macht uns guten Mut.
    Am Ende stehn wir stille,
    die Toten ruhen wohl,
    denn vivat heißet lebe
    und valet lebe wohl …«
    Und dann konnte Alena nicht mehr an sich halten. Der feierliche Gesang, der Lichterglanz, der bewegende Text ihres Liedes – alles das ließ ihren Körper erbeben, ihre Schultern begannen zu zucken, und Tränen quollen zwischen ihren Lidern hervor. Aus ihrem Weinen wurde ein Wimmern und aus dem Wimmern ein Schluchzen, das über den ganzen Gang hallte und von einem Aufstöhnen der Anwesenden begleitet wurde – und in dieses Weinen und Wimmern und Schluchzen hinein öffnete sich endlich die Tür.
    Johann Heinrich Mylius stand einen Augenblick wie geblendet, dann blickte er zu Boden. »Es ist gut«, murmelte er. »Es ist gut.«
    Niemand

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