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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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macht sich sowieso strafbar. Braucht Ihr noch Hilfe, mein Herr?«
    »Nein danke, mir geht es gut.«
    Die beiden grüßten und verschwanden.
    Abraham schleppte sich zurück zum Hospiz.
     
     
    »Wo habt Ihr das bloß her, Herr Doktor?«, fragte Hasselbrinck, während er Abraham in dessen Stube einen Schulterverband anlegte. »So ein dicker Bluterguss, der kommt ja nicht von selbst. Sieht aus, als hätt Euch jemand von hinten eins übergezogen.«
    »Ich sagte doch, ich bin mit jemandem zusammengestoßen und rückwärts gegen einen Laternenpfahl geprallt.«
    »Ja, ja«, brummte Hasselbrinck und machte einen abschließenden Knoten. »Seltsame Laternenpfähle gibt’s in dieser Stadt. Aber mich geht’s ja nichts an, Herr Doktor.«
    Da habt Ihr recht, wollte Abraham antworten, aber das wäre unhöflich und deplaziert gewesen, denn der Krankenwärter hatte sich rührend um ihn gekümmert, hatte ihm eine Zinksalbe appliziert, einen Weidenrindentee gegen die Schmerzen aufgegossen und anschließend frisches Verbandsleinen geholt. »Was machen unsere drei Bergleute?«
    »Ach, das hab ich vor Aufregung ganz vergessen, Herr Doktor: Der in der Mitte, also Burck, der hat vorhin, als ich reinging, die linke Hand bewegt. Wenn’s nicht unmöglich wär, würd ich sagen, er hat sich an der Lende gekratzt.«
    »Was?« Abraham fuhr hoch, sank aber augenblicklich zurück. »Autsch!«
    »Ja, ja, die Göttinger Laternenpfähle.« Hasselbrinck gestattete sich ein Grinsen.
    »Wann war das?«
    »Ihr wart grad weg, Herr Doktor, da wollt ich die Patienten sauber machen und die Botschamper ausleeren. Ja, da ist’s passiert.«
    »Ich muss sofort zu Burck hinüber.« Abraham stand ächzend auf, ließ sich von Hasselbrinck in den Rock helfen und strebte zum Patientensaal. »Burck!«, rief er und nochmals: » BURCK !«, weil er sich erinnerte, dass Pentzlin vor ein paar Tagen ebenfalls auf lautes Rufen seines Namens reagiert hatte.
    Täuschte er sich, oder hatte Burck tatsächlich die linke Hand bewegt? »Burck, könnt Ihr mich hören?«
    Wieder keine Reaktion, außer einem Zittern der linken Hand. Am liebsten hätte Abraham sofort den Elektrophor wieder herbeigeholt, aber das verbot sich natürlich zu so später Stunde. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als »Gute Nacht« zu wünschen – für den Fall, dass ihn doch einer der drei wahrnahm – und unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.
    Er ging zurück in seine Stube, wo er sein Lager auf dem Dielenboden ausbreitete und sich mit einigen Schwierigkeiten zur Ruhe legte.
    Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Zu vieles hatte sich in den letzten Stunden ereignet. Erst das Zerwürfnis mit Alena und dann der Anschlag auf ihn durch den Pommeraner. Er drehte sich auf die rechte Seite, doch diese war nicht seine Einschlafseite. Er drehte sich auf den Rücken, doch in dieser Position hatte er noch nie Ruhe finden können. Er probierte die Bauchlage – es war wie verhext. Und dann, plötzlich, waren alle Schlafbedürfnisse dieser Welt unwichtig, denn er hörte sie wieder: die Geräusche auf dem Gang!
    Unter Schmerzen richtete er sich auf und lauschte erneut. Kein Zweifel, es handelte sich um Laute derselben Art wie beim ersten Mal. Sie klangen hart, waren unregelmäßig und dann wieder ganz verschwunden. Und sie kamen aus dem Patientensaal. »Na, warte«, murmelte Abraham. Ohne Rücksicht auf seinen Zustand eilte er auf den Gang und steuerte den Patientensaal an. Er wollte die Tür aufreißen, doch im gleichen Moment öffnete sie sich schon, und eine Gestalt hastete heraus. Abraham nahm sie nur schemenhaft wahr. Er wollte sie greifen – und verfehlte sie. Alles ging rasend schnell. Der Unbekannte lief im Zickzack zur Treppe, ein lautes »Tock, Tock, Tock« war zu hören, gerade so, als schlüge etwas gegen die Wände oder stampfte auf den Boden. Abraham wollte dem Fliehenden nachlaufen, doch der Schmerz in seiner Schulter lähmte ihn. Er war einfach zu langsam. »Hasselbrinck!«, rief er, »Hasselbrinck!«
    Doch es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Krankenwärter – mit Nachthemd und Nachtmütze ein seltsames Bild abgebend – am Fuß der Treppe erschien. »Was ist denn passiert, Herr Doktor?«
    »Jemand war bei meinen Patienten.«
    »Wer denn?«
    »Das wüsste ich auch gern!« Noch ehe sich Abraham über die sinnlose Frage ärgern konnte, fiel ihm siedend heiß ein, dass Schreckliches geschehen sein konnte, während er nichts anderes zu tun hatte, als mit Hasselbrinck zu palavern.

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