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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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hört sich doch vielversprechend an! Macht nur weiter so. Ich verlasse mich ganz auf Euch.«
    »Danke, Herr Professor.«
    »Ich darf doch davon ausgehen, dass Ihr und Hasselbrinck für alles Notwendige Sorge tragt? Ich meine, die Benachrichtigung des Pfarrers mit der Bitte um eine angemessene Totenfeier, das Fortschaffen der Leiche, die Überführung nach Bad Grund …?«
    »Äh, ja, Herr Professor.«
    »Ich wusste, dass ich mich auf Euch verlassen kann. Wo ist der Totenschein? Ah, da.« Richter nahm ihn und stiefelte voran in Hasselbrincks Büroraum, wo er zu Tinte und Feder griff und schwungvoll unterschrieb.
    Abraham nahm den Zettel entgegen und fragte in möglichst gleichgültigem Ton: »Ach, übrigens, wie geht es Madame Stromeyer?«
    Richter stutzte für einen Moment, dann schmunzelte er. »Ich verstehe den Hintergrund Eurer Frage, mein lieber Abraham, aber die alte Dame scheint zäh am Leben zu hängen. Stromeyer selbst weicht nach wie vor nicht von ihrer Seite, mit anderen Worten: Ihr müsst hier noch etwas aushalten.«
    Abraham sagte rasch: »So war das nicht gemeint, Herr Professor.«
    Richter schmunzelte immer noch. »So habe ich es auch nicht verstanden. Ach, nebenbei, was macht Eure Doktorarbeit?«
    »Ich muss sie nur noch ein- oder zweimal gegenlesen, Herr Professor.« In Abrahams Worten schwang Stolz mit.
    »Was, so weit seid Ihr schon? Sackerment, Ihr seid ein fleißiger Mann! Bin gespannt auf Eure Ausführungen über die inneren Veränderungen des Auges.«
    »Danke, Herr Professor.«
    »Gehabt Euch wohl, Abraham. Ich lasse Euch mit ruhigem Gewissen zurück, denn Hasselbrinck steht Euch ja zur Seite.«
    »Jawohl, Herr Professor.« Abraham blickte Richter nach, wie er mit raumgreifenden Schritten der Innenstadt zustrebte.
     
     
    Pfarrer Egidius hatte es eilig, als er drei Stunden nach Mittag kam, was er aber – mehr oder weniger erfolgreich – zu verbergen wusste. Er stieg, die Soutane schürzend, die Treppe zum Oberstock hinauf und stellte sich ohne Umschweife neben Burcks Bett, wo er ein stilles Gebet verrichtete. Abraham und Hasselbrinck taten es ihm gleich, wobei Abraham nur vorschützte zu beten, denn in seinem Herzen war er noch immer Jude. Dann hob Pfarrer Egidius zu predigen an, nachdem er das Kreuz geschlagen hatte. Er hielt eine hölzerne Christusfigur in Richtung des Toten und sprach: »Wir sind hier zusammengekommen, um die Seele dieses armen Sünders zu befreien und die Hoffnung auf sein ewiges Leben zu erfüllen …«
    »Verzeihung, Herr Pfarrer«, unterbrach Abraham, »leider kann ich der Handlung nicht beiwohnen, mich rufen andere, noch dringlichere Pflichten.«
    »Das ist schade, mein Sohn.« Es war Egidius anzusehen, dass er sich nichts Wichtigeres vorstellen konnte, als seinen Worten zu lauschen. »Aber tue, was du tun musst.«
    Abraham ging in seine Stube. Er fühlte sich nicht wohl wegen seiner Notlüge, aber wenn er geblieben wäre, hätte er sich noch schlechter gefühlt. Wie ein Heuchler. Und Heuchelei war eine größere Sünde als Unhöflichkeit. Um irgendetwas zu tun, begann er, seine Dissertation zu redigieren, doch er konnte sich kaum auf die Arbeit konzentrieren, denn die sonore, kanzelgewohnte Stimme des Pfarrer drang durch die dünnen Wände bis zu ihm herüber. Als es ihm endlich halbwegs gelungen war, kam Hasselbrinck herein und sagte: »Das war’s, Herr Doktor. Kurz und schmerzlos. Der Herr Pfarrer ist schon weg. Er hat’s Euch wohl verübelt, dass Ihr nicht bei der Feier wart, wenn ich das sagen darf.«
    Abraham fiel darauf nichts Rechtes ein, deshalb antwortete er: »Wir müssen noch besprechen, wie wir Burck morgen nach Bad Grund schaffen lassen. Wer hat ein entsprechendes Gefährt, wer kann ihn fahren und so weiter … Ich werde den Angehörigen einen Beileidsbrief mit allen Erklärungen mitgeben und überdies ein Schreiben für Doktor Tietz, den Bergwerksarzt, aufsetzen. Kann ich auf Euch zählen?«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    »Wenn ich Euch nicht hätte.«
    Hasselbrinck blühte förmlich auf, nahm Haltung an und verließ die Stube.
    Nachdem Abraham die Briefe geschrieben und Hasselbrinck ausgehändigt hatte, wollte er weiter an seiner Dissertation arbeiten, stellte fest, dass er sich noch immer nicht konzentrieren konnte, obwohl der Pfarrer fort war, entschied sich anders, stellte den Elektrophor im Patientensaal auf, wollte mit den Experimenten an Pentzlin und Gottwald beginnen, fühlte, dass er auch dazu nicht in der Lage war, und verfiel

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