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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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»Wartet!« Er eilte zurück zum Saal, trat ein und entzündete mit fliegenden Händen Licht. Da lagen sie, seine Schützlinge, friedlich und unversehrt. Doch waren sie es wirklich? Abraham betrachtete jeden Einzelnen von ihnen auf das Genaueste. Nein, es war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Halbwegs beruhigt trat er wieder hinaus auf den Gang, wo er Hasselbrinck antraf, jetzt wieder in gewohntem Aufzug. »Alles in Ordnung, Herr Doktor?«
    »Zum Glück, ja.«
    »Seid Ihr sicher, dass Ihr was gehört habt?«
    »Nicht nur gehört, sogar gesehen!« Abraham schilderte seine Eindrücke.
    »Tja, Herr Doktor, wenn Ihr’s sagt, dann wird es so sein. Aber nun legt Euch wieder hin. Diese Nacht passiert nichts mehr. Der kommt nicht wieder, das garantier ich.«
    »Euer Wort in Gottes Ohr.«
    »Werde Wache halten, Herr Doktor.« Hasselbrinck blickte Abraham treuherzig an. »Wie damals bei der Infanterie, Herr Doktor. Nicht wahr, die kennen wir ja beide.«
    »Das wollt Ihr tun?« Abraham gestand sich ein, dass der Gedanke ihm nicht unangenehm war. Schmerz konnte einen zermürben, und er sehnte sich nach Ruhe.
    »Ja, und ich hab hier auch noch ein Schlafmittel. Ist etwas getrocknete Mohnmilch drin, die wirkt bestimmt.«
    Abraham musste lächeln. Hasselbrinck war wirklich ein braver Mann. »Nun gut, ich werde das Mittel nehmen, obwohl es wahrscheinlich zu stark ist. Wie hätten wir damals beim Militär gesagt: Das ist wie Batterien aufwerfen, um Bachstelzen zu schießen.«
    »Haha, Herr Doktor, da habt Ihr recht. Aber nehmt’s ruhig trotzdem. Morgen sieht alles wieder besser aus.«
    »Danke, Hasselbrinck. Dann gute Nacht.«
    »Gute Nacht, Herr Doktor.«
     
     
    Infolge des starken Schlafmittels erwachte Abraham erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
    Er brauchte einen Augenblick, um sich zu besinnen. Es war Freitag, der erste Mai, ein Zeitpunkt, zu dem ganz Göttingen grünte und blühte und sich von seiner schönsten Seite zeigte.
    Nur war das, was er in der letzten Nacht erlebt hatte, alles andere als schön.
    Mit ein paar vorsichtigen Bewegungen prüfte er die Funktion seines Schultergelenks und stellte mit Erleichterung fest, dass eine deutliche Besserung eingetreten war. »Du gehörst wohl doch noch nicht zum alten Eisen«, sprach er grimmig zu sich selbst und schenkte Waschwasser aus dem Krug in die Schüssel ein. Er säuberte sich unbeholfen, wobei er abermals eine Besserung in der Schulter registrierte. Dann stieg er in seine Hosen und streifte mit Mühe ein Hemd über. Der von Hasselbrinck angebrachte Verband war doch recht hinderlich.
    Nach diesen eher lästigen, aber notwendigen morgendlichen Verrichtungen führte ihn sein erster Weg hinüber zum Patientensaal, den Hasselbrinck, der Zuverlässige, sicherlich wie seinen Augapfel gehütet hatte. Im Augenblick schien er allerdings anderweitig beschäftigt, denn von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Nun, das machte nichts, jetzt war er ja da. Abraham öffnete die Tür und ging hinein. »Guten Morgen«, sagte er wie üblich, wohl wissend, dass er keine Antwort erwarten konnte.
    Und dann sah er, dass er wahrhaftig keine Antwort erwarten durfte. Heute nicht, morgen nicht, niemals. Zumindest galt das für einen der drei Bergleute: Burck war es, der in der Mitte Liegende, der mit widernatürlich gedrehtem Kopf in seinem Bett lag und ihn aus seelenlosen Augen ansah.
    Abraham wollte es zunächst nicht glauben, denn auch Pentzlin und Gottwald schauten seelenlos drein, und trotzdem gab es einen Unterschied – es waren Burcks lichtstarre, geweitete Pupillen. Mit einem letzten Fünkchen Hoffnung prüfte er den Puls und hielt einen Finger an die Halsschlagader. Nichts. Er betrachtete den Körper, sah die wächserne Gesichtsfarbe, eine beginnende Marmorierung der Haut. Als hätte es noch eines letzten Beweises bedurft, hatte sich auch der
Rigor mortis
nahezu vollständig ausgebildet, ein Anzeichen, dass der Patient schon sechs oder mehr Stunden tot war.
    Nur: Wie war er zu Tode gekommen?
    Abrahams Gedanken fuhren Karussell. Fragen über Fragen türmten sich vor ihm auf, von denen die zwei wichtigsten diese waren: Erstens – hatte der Tod etwas mit dem abgewinkelten Kopf zu tun? Und zweitens – war die schemenhafte Gestalt zum Hospital zurückgekehrt und hatte den Kopf gedreht?
    Beide Fragen mussten mit Nein beantwortet werden. Denn durch einfaches Drehen des Kopfes war noch niemand gestorben, schließlich stellte das eine ganz natürliche Bewegung dar. Gut und

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