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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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nachdem ich ihm gehörig die Leviten gelesen hatte. Aber er schwört Stein und Bein, da wär nichts gewesen mit dieser Henrietta. Sie war übrigens hier, natürlich als Heinrich verkleidet, und hat nach ihm gefragt. Sie hätt ein paar Sachen für ihn in ihrem
Libell
und dergleichen. Sie war sehr höflich, dass muss man ihr lassen. Ein
convenables
Kind. Fast hätte sie einen Knicks gemacht, hab’s genau bemerkt, hab aber so getan, als hätt ich’s nicht gesehen.«
    »Und habt Ihr ihm geglaubt, Mutter Vonnegut?«
    »Wem? Ach so, Julius. Ja, ich hab ihm geglaubt. Nun ja, ein bisschen auch, weil ich es wollt. Man muss den Männern glauben und sollte nicht immer alles wissen wollen. Wer viel fragt, kriegt viel Antwort. Es ist wie beim Arzt: Wer ihn fragt, ob er ein Zipperlein hat, dem wird er schon eins andichten, äh, ich spreche natürlich nicht von Julius. Auf jeden Fall muss einer blind sein, der ihm nicht an der Nasenspitze angesehen hat, wie sehr du ihm fehlst.«
    Als Alena diese Worte hörte, war es ihr, als würde ein mächtiger Choral in ihr erklingen. Das Herz wurde ihr weit, und die Sehnsucht nach ihm, die sie so lange unterdrückt hatte, brach sich Bahn. »Er hat mir auch gefehlt, sehr sogar.«
    »Das ist gut so, aber zeig’s ihm, um des lieben Herrgotts willen, nicht gleich. Es kann nicht schaden, wenn er zunächst noch kleine Brötchen backt.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
    »Quickquack, das ist nicht
difficil,
du wirst es sehen. Ein bisschen Kalkül steckt in jeder Frau. Und später gibst du nach. Koch ihm was Schönes, nur für euch zwei.
Mache den Raum deiner Hütte weit und breite aus die Teppiche deiner Wohnung,
so heißt es doch.«
    Alena konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie stellte sich vor, sie müsste in ihrem »halben Zimmerchen« einen Teppich ausrollen. »Ich werde mir Mühe geben, Mutter Vonnegut.«
     
     
    Gegen fünf Uhr am Nachmittag machte Alena sich auf den Weg zum Hospital, obwohl die Witwe gemeint hatte, sie solle bis zum Abendessen warten, dann würde Julius sowieso erscheinen.
    Alena hatte entgegnet, ein Spaziergang würde ihr guttun, die Luft sei herrlich, und sie könne bei der Gelegenheit noch ein paar Einkäufe für den morgigen Tag erledigen. »Mach einer alten Frau kein X für ein U vor«, hatte die Witwe gemeint und sie mit einer Handbewegung aus der Küche gescheucht. »Geh schon, ich bin’s in den letzten Tagen ja gewohnt, alles allein machen zu müssen.«
    Nun stand sie, frühlingshaft in ein leichtes Kleid aus grünem Batist gewandet, vor der Fassade des Hospitals, wo Hasselbrinck noch immer mit Eimer, Farbe und Quast gegen die Bemoosung ankämpfte. »Der Herr Doktor ist oben«, sagte er. »Er arbeitet wieder mit diesem Elektrodings.«
    Alena bedankte sich und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe empor. Sie nahm den Weg direkt zum Patientensaal und trat leise ein. Abraham wandte ihr den Rücken zu und rieb hektisch an einem metallenen Gerät herum. Plötzlich schlug ein langer Funke daraus hervor, und einer der Patienten zuckte an Armen und Beinen. Alena entfuhr ein Laut des Schreckens.
    »Hasselbrinck?« Abraham drehte sich um.
    Sie hatte sich viele Sätze für diesen Augenblick zurechtgelegt, Sätze, die nicht zu freundlich und nicht zu abweisend klingen sollten, eher gleichgültig, aber das Einzige, was sie herausbekam, war: »Ich bin es.«
    Ein Lächeln aus Staunen und Befangenheit glitt über Abrahams Gesicht. »Du bist es wirklich.«
    »Ja …« Alena wusste nicht weiter.
    Abraham stellte den Elektrophor ab und sagte: »Ich setze gerade meine Versuche fort …«
    »Ich sehe es.«
    »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.«
    »Das ist nicht so schlimm.« Abrahams Unsicherheit machte sie sicherer.
    »Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Ich meine, du warst ja so schnell verschwunden.«
    Alena wäre am liebsten auf ihn zugeflogen und hätte ihn geküsst, aber sie dachte an die Worte der Witwe und sagte: »Ich hatte auch allen Grund dazu.«
    Er hob die Hände. »Du, äh, die Sache mit den Haaren, es hatte nichts zu bedeuten, wirklich nicht.«
    »Wirklich nicht?« Alena fragte es nur der Form halber, denn sie kannte Abraham so gut wie niemanden sonst auf dieser Welt, und sie wusste, wenn er dieses Gesicht machte, sagte er die Wahrheit. Ob es die ganze Wahrheit war, interessierte sie nicht mehr. Sie liebte ihn viel zu sehr.
    »Komm zu mir … bitte. Wir gehören doch zusammen.«
    Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, da lag sie

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