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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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schön. Und was hatte es mit der rätselhaften Gestalt auf sich? Sie konnte nichts damit zu tun haben, denn Hasselbrinck, der Wachsame, war auf dem Posten gewesen.
    »Donner und Doria! Was hat das alles zu bedeuten?« Ohne es zu merken, hatte Abraham laut gerufen.
    »Herr Doktor sind wach?« Hasselbrinck stand in der Tür.
    »Guten Morgen, Hasselbrinck. Eine Frage: Habt Ihr die Patienten die ganze Nacht über bewacht?«
    Der Krankenwärter streckte sich. »Jawoll, Herr Doktor. Bis vor einer halben Stunde, da musste ich zum Brunnen, Wasser holen. Ist was passiert?«
    Abraham überlegte, dass Burck in jedem Fall schon länger als eine halbe Stunde tot war. »Und davor habt Ihr hier im Saal Wache gehalten? Ich meine, durchgehend?«
    Hasselbrinck kratzte sich am Kopf. »Ja, wenn ich mich recht erinner, war da kurz vor Morgengrauen ein Gräusch.«
    »Ein Geräusch? Wo?«
    »Vorm Haus, Herr Doktor.«
    »Genauer, bitte!« Abraham konnte seine Ungeduld kaum zügeln.
    »Beim Eingang, denk ich. Bin kurz runter und hab mich mal umgesehen, aber da war nichts, und dann bin ich wieder hoch. Das war alles.«
    Also doch, dachte Abraham. Himmel und Hölle! Der Unbekannte war noch einmal ins Haus eingedrungen und … ja, und was eigentlich? Zweifellos hatte er Burck den Kopf zur Seite gedreht, doch das war schon alles. Oder reichte das aus, einen Menschen zu töten? Es hieß doch auch »einem Menschen den Hals umdrehen«?
    Unsinn. Um jemandem den Hals umzudrehen, musste man ihm das Genick brechen, und das war hier keinesfalls geschehen. Was sollte das alles überhaupt? Burck hatte sicher keine Feinde. Und falls doch, dann wären sie sicher nicht aus Bad Grund hierhergekommen, um ihn zu ermorden. Krause Gedanken. Ungereimtes Zeug, das er da zusammenspann!
    Weitere Frage: Soll ich Hasselbrinck, den stets Braven, Bemühten,
Mores lehren?
Es war sein Fehler gewesen, ganz klar, andererseits hatte er nur seine Pflicht getan, und überdies war er nicht mehr der Jüngste. »Schon gut, Hasselbrinck«, sagte Abraham, »wir haben einen Sterbefall. Burck ist nicht mehr am Leben.«
    Der Krankenwärter trat näher. »Ja, der ist tot«, sagte er nüchtern. »Warum hat er den Kopf so komisch, Herr Doktor?«
    »Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich werde den Totenschein so weit vorbereiten, dass Professor Richter ihn nur noch unterschreiben muss. Seid so gut, und holt mir ein Formular herauf.«
    »Jawoll, Herr Doktor.«
    Hasselbrinck verschwand, und Abraham richtete Burcks Kopf wieder gerade. Abermals kam er ins Grübeln. Hatte er sich wirklich nichts vorzuwerfen? Immerhin war Burck der erste Tote, der in seiner Verantwortung das Zeitliche gesegnet hatte. Konnten die Stromstöße des Elektrophors eine verspätete tödliche Wirkung gehabt haben? Warum war Burck tot und die anderen nicht? Der Mann war kerngesund gewesen bis zu seinem Unfall in der Grube, genau wie Pentzlin und Gottwald. Gut, alle drei mochten Ansätze einer Staublunge gehabt haben – die hatte nahezu jeder Bergmann –, aber davon starb man nicht.
    Rätsel über Rätsel.
    Hasselbrinck erschien mit dem Formular. Abraham ging hinüber in seine Stube und füllte es aus. Als Todesursache gab er
Insuffizienz
des Herzens an. Das war in jedem Fall richtig, denn ein versagendes Herz führte immer zum Tod.
    Dann wartete er.
    Gegen Mittag erschien Professor Richter, »der Notsituation gehorchend«, wie er jovial feststellte. Eigentlich habe er die Zeit nicht, aber nun ja … Er sah Burck nur flüchtig an und erklärte dann: »Der Mann ist zweifellos tot.«
    »Es tut mir sehr leid, Herr Professor«, sagte Abraham.
    »Was? Dass er tot ist? Aber das ist doch nicht Eure Schuld, Abraham!«
    »Ich rätsele, was die Ursache für die
Insuffizienz
war.«
    Richter lachte leicht und klopfte Abraham auf die Schulter. Dann faltete er die Hände auf dem Rücken und ging ein paar Schritte auf und ab. »Der erste Tote ficht einen immer am meisten an, wenn ich das so salopp formulieren darf. Und wenn man nicht hinter die Ursache für sein Dahinscheiden kommt, umso mehr. Aber ich sage Euch eines, Abraham: Unter hundert Toten ist immer einer, der auf unerklärliche Weise stirbt. Ihr seid also nicht der erste Arzt, dem das widerfährt. Deshalb: Kopf hoch! Wie geht es denn den beiden anderen Patienten?«
    Abraham berichtete von dem Elektrophor und von seinen Bemühungen mit der Lichtenbergschen Influenzmaschine. Er schilderte die kleinen Erfolge, und Richter klopfte ihm abermals auf die Schulter. »Das

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