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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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schon in seinen Armen. Lachend und ein bisschen weinend, glücklich wie selten zuvor. Das Schönste an einem Streit war doch die Versöhnung! Sie kuschelte sich an seine Schulter und blickte zu ihm auf.
    Er drückte sie fest an sich, so fest, dass ihr fast schwindelig wurde, bevor er sie küsste. Er küsste sie wieder und wieder, und er wollte ihr sagen, dass sie das Wertvollste auf der Welt für ihn war, wertvoller noch als seine geliebten Puppen. Er suchte nach Worten, doch was ihm einfiel, erschien ihm klein und unbedeutend gegen das große Gefühl, das ihn beherrschte, und schließlich flüsterte er ihr ins Ohr: »Stell dir vor, ich habe meine Dissertation fertiggeschrieben.«
    »Wunderbar, Abraham!« Sie küsste ihn. »Ich habe dich so vermisst.«
    »Ich dich auch, viel mehr, als du dir vorstellen kannst. Du, ich muss die Arbeit noch redigieren, aber im Prinzip ist sie abgeschlossen. Wenn ich das Semester zu Ende gebracht habe, wirst du tatsächlich mit einem Doktor der Medizin verheiratet sein.«
    »Wunderbar.«
    »Vorausgesetzt, Professor Richter bewertet sie gnädig, und ich überstehe das
Rigorosum,
ich meine, die mündliche Prüfung.«
    »Wunderbar«, sagte Alena zum dritten Mal. Ihre Augen leuchteten. Tiefe Zuneigung stand darin. Sie fühlte, dass die alte Vertrautheit zwischen ihnen zurückgekehrt war. »Ich habe auch etwas geschafft.«
    Sie berichtete von den düsteren Zuständen im Myliusschen Haus, dem bösen Blut zwischen der Dienerschaft und der schier unüberwindlichen Halsstarrigkeit des Hausherrn. »Mein Klagelied jedoch hat alle wieder zusammengeführt.« Sie lächelte. »Mein Klagelied und tausend brennende Kerzen vor dem Sterbezimmer.«
    Sie erzählte weiter und schloss, indem sie ihre Geldkatze unter dem Gürtel hervorholte: »Sieh nur, was Franz mir gegeben hat – zehn Taler! Ein kleines Vermögen. Davon können wir die ganze Miete für dein letztes Semester bezahlen. Das Geld und deine fertige Dissertation werden uns von allen Schwierigkeiten befreien.«
    Abraham lachte froh. »Das ist ja wie ein Traum.«
    »Und doch ist es Wirklichkeit. Hör mal, die Groschen klimpern ganz leibhaftig. Ich habe sie für uns verdient, nur für uns.« Sie steckte Abraham die Münzen in die Rocktasche.
    »Lass doch, Liebste, heb du sie für uns auf.«
    »Nein, nein, der Mann soll der Hüter der Barschaft sein. Nanu, da ist ja schon ein Geldstück? Ein großes sogar!« Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Bist du etwa heimlich zu Geld gekommen? Hast du mir etwas verschwiegen, Abraham?«
    »Das würde ich niemals tun, das weißt du doch.« Er küsste sie, knabberte an ihrem Ohrläppchen und fingerte gleichzeitig den runden Gegenstand hervor. »Es ist sicher …«
    Und dann verstummte er, denn es hatte ihm die Sprache verschlagen.
    In seiner Hand lag das Medaillon von Henrietta.
     
     
    Abraham trug mit akkurater Schrift in Gottwalds Krankenjournal ein:
Heute, am Donnerstag, dem
30
sten April, gelang es erstmals mit Hilfe des Elektrophors, weitere Reaktionen des Kranken zu generieren. Es handelt sich um Bewegungen von vergleichsweise geringer Stärke, doch mag ihr Auftreten von ebenso großer Bedeutung sein wie das beobachtete Zucken von Arm und Bein: Es ist ein kaum wahrnehmbares Zittern der kleineren Gelenke, ein Klappern der Kaumuskulatur sowie ein leichtes Flattern der Augenlider. Die genannten Bewegungen sind umso interessanter, als sie beim Eintreten des
Rigor mortis
in umgekehrter Reihenfolge stattfinden. Sollte der Elektrophor tatsächlich in der Lage sein, die scheinbare Totenstarre aufzulösen und den Patienten wieder »zum Leben« zu erwecken?
    Abraham legte die Feder beiseite und seufzte schwer. So erfreulich die Entwicklung seiner drei Patienten war, so niederschmetternd war der Abschied von Alena gewesen. Genau genommen hatte es gar keinen Abschied gegeben. Sie hatte ihn nur angestarrt und mit ganz kleiner, aber eisiger Stimme gesagt: »Und ich habe dir geglaubt, du Schuft.«
    Dass sie nicht geweint oder geschrien oder ihn mit den Fäusten traktiert hatte, war für ihn das Schlimmste gewesen. Sie hatte nur dagestanden, wie zur Salzsäule erstarrt, und immer wieder nur den einen Satz gemurmelt: »Und ich habe dir geglaubt, du Schuft.«
    Dann war sie gegangen.
    Und er war sich vorgekommen, als hätte er den Heiland persönlich ans Kreuz geschlagen.
    Seitdem hatte er sich im Patientensaal verschanzt und war für niemanden zu sprechen. Sogar für Hasselbrinck nicht, der etwas zu ahnen schien

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