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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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haben, für den Rest ihres Lebens fertig zu werden.
    »Schau niemals zurück«, hatte Sarah Bernhardt einmal zu ihr gesagt. »Sieh immer nach vorn, denn es geht immer irgendwie weiter. Misserfolge und Fehlschläge stärken uns, und niemand kann die Vergangenheit ändern.«
    Die flüchtige Begegnung mit Lavinia Callington und Anabell in London hatte Susan mehr aufgewühlt, als sie sich eingestehen wollte, dennoch war sie wieder nach Polperro gefahren. Während die Städte Penzance und St. Ives im Westen der Grafschaft schon seit längerem vermehrt von Sommerfrischlern aufgesucht wurden und sich zu gefragten Seebädern entwickelt hatten, schien in Polperro die Zeit stehengeblieben zu sein. Nur wenige Touristen verirrten sich in das verschlafene Dorf, denn Vergnügungen wurden hier keine angeboten. Es gab drei Pubs, die jedoch nur von den Einheimischen frequentiert wurden und die eine alleinreisende Frau nicht betreten konnte, und an den Sommerwochenenden sang am Hafen manchmal ein Männerchor traditionelle Lieder, die von dem schweren Leben der Fischer erzählten. Susan war nicht auf der Suche nach Unterhaltung und Vergnügen – im Gegenteil: Sie war dem allen entflohen, um endlich wieder zu sich selbst zu kommen.
     
    Die Sonne brannte vom stahlblauen Himmel herab, so dass Susan trotz ihres leichten Musselinkleides ins Schwitzen kam. Spitz stachen die Steine durch die dünnen Sohlen ihrer Lederstiefel, während sie den östlichen Küstenweg in Richtung Looe beschritt. Der Pfad, der sich vom Hafen Polperros aus erst steil nach oben wand, verlief jetzt eben, war jedoch so schmal, dass sich Susan immer wieder durch üppig wucherndes Farnkraut und fast mannshohe Fingerkrautgewächse den Weg bahnen musste. Über ihrem Kopf kreisten Möwen und stießen schrille Schreie aus, ansonsten lag eine Ruhe über der Landschaft, die Susan die Hektik Londons vergessen ließ. Sie war ohne Ziel losgelaufen, bis nach Looe würde sie auf keinen Fall gehen. Ein Einheimischer hatte ihr gesagt, dass es über den Küstenweg viereinhalb Meilen waren. So eine weite Strecke, die sie ja auch wieder zurückgehen musste, traute sich Susan bei dieser Hitze nicht zu. Nach etwa einer Meile fiel der Pfad wieder ab und führte steil zum Meer hinunter. Susan erkannte die Bucht sofort wieder – es war die Talland Bay, der Platz, an dem sie sich das eine Mal mit Lavinia Callington getroffen hatte. Damals war sie über den Landweg von der Park Farm aus gekommen, doch in der Bucht hatte sich kaum etwas verändert. Es war Ebbe, und ein schmaler Streifen Sandstrand glitzerte in der Sonne. Dann bemerkte Susan ein kleines Haus, das bei ihrem letzten Besuch noch nicht dort gewesen war. Beim Näherkommen erkannte Susan, dass es sich um eine Teestube handelte. Ein paar wenige Tische, Stühle und Sonnenschirme standen draußen und boten einen herrlichen Blick über die Bucht auf das Meer hinaus. Offenbar kamen doch immer wieder Besucher in diese Gegend, so dass sich hier eine Teestube lohnte. Susan stieg der Geruch von frisch gebackenem Kuchen in die Nase, und sie merkte, wie hungrig sie war. Von den Tischen war nur einer besetzt. Das ältere Ehepaar nickte Susan freundlich zu, als sie sich an den Nebentisch setzte. Bei der Bedienung, einem jungen Mädchen mit Sommersprossen und kleinen, spitzen Zähnen, bestellte sie Tee und Nusskuchen, der gleich darauf serviert wurde. Der Sonnenschirm spendete genügend Schatten, so dass Susan ihren eigenen Schirm zusammenklappen konnte. Im seichten Wasser der Bucht standen zwei Jungen, die Hosen hochgekrempelt, und versuchten, Krabben zu fischen, und einzelne Spaziergänger führten ihre Hunde aus und genossen den herrlichen Sommertag ebenso wie Susan. Mit halbem Ohr verfolgte sie das Gespräch des Paares am Nachbartisch, das sich um einen drohenden Streik der Bergarbeiter in Cornwall drehte, die für höhere Löhne kämpften. Als Susan so überlegte, dass sie sich seit Monaten für nichts anderes als ihr eigenes Schicksal interessiert hatte, flog ein Ball auf ihren Tisch, stieß die Tasse um, und der Tee ergoss sich mit einem Schwall auf ihren hellen Rock. Gleich darauf ertönte eine scharfe Stimme: »Kannst du denn nicht aufpassen? Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst in der Nähe von Leuten nicht mit dem Ball spielen.«
    Eine aufgeregte junge Frau eilte auf sie zu. Sie war in dunkles Blau gekleidet und kaum älter als zwanzig Jahre. Susan versuchte, mit der Serviette die Flecken von ihrem Rock zu tupfen, wobei

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