Das Lied der Luege
liegt«, rief Joan und lachte. »Du hättest sie wohl gerne mal im Negligé gesehen, nicht wahr?«
Susans Kolleginnen lachten laut, und Joan machte eine anzügliche Geste, die dem armen Jungen die Röte ins Gesicht trieb.
»Hab meinen Auftrag ausgeführt«, murmelte er verlegen und machte, dass er fortkam.
Susans freudige Stimmung verflog. Wenn Theo sie erst jetzt zu nachtschlafender Stunde sprechen wollte, so konnte das nichts Gutes bedeuten. Theodor Murphy hatte ein aufbrausendes Temperament und sagte in der Regel gleich, wenn ihm etwas missfiel. Dass er nach ihrem Auftritt kein Wort an sie gerichtet hatte und auch nicht bei der Feier erschienen war, verhieß nichts Gutes. Wahrscheinlich hatte Theo sich die Worte, die er Susan sagen wollte, erst gut überlegen müssen. Vielleicht war sie sogar so schlecht gewesen, dass er ihr die Hauptrolle wieder absprach. Mit einem bangen Gefühl ging Susan über die Straße auf das inzwischen in völliger Dunkelheit liegende Theater zu. Lediglich über dem Bühneneingang brannte eine kleine Lampe und in den Gängen die Notbeleuchtung. Sie stieg in den zweiten Stock hinauf, verharrte vor Theos Bürotür und versuchte, sich innerlich gegen die zu erwartende Kritik zu wappnen. Da hörte sie eine zweite, ihr unbekannte Stimme im Raum. Theo war offenbar nicht allein. Susan klopfte und wurde sofort aufgefordert, einzutreten.
Außer Theo, der hinter seinem wuchtigen Schreibtisch saß, erhob sich ein untersetzter, älterer Mann aus dem Sessel und blickte sie erwartungsvoll an. Susan fiel sofort sein schütteres, gelbliches Haar und die Hornbrille mit den dicken Gläsern auf.
»Ah, das ist also Peggy Sue. Sehr schön.« Die Stimme des Fremden war dunkel und tief und von einem für Susans Ohren unbekannten Akzent geprägt. Sie suchte Theos Blick, konnte darin aber nichts Negatives oder gar Unwillen entdecken. Im Gegenteil, er nickte ihr wohlwollend zu.
»Peggy, gut, dass du so schnell gekommen bist, auch wenn es mitten in der Nacht ist, aber die Sache ist dringend. Wir Theaterleute machen ohnehin die Nacht zum Tag, nicht wahr?« Theo lachte ungezwungen, und Susan blickte verwirrt von ihm zu dem Fremden.
»Welche Sache?«, fragte sie.
»Darf ich dir Leonard Kingsley vorstellen?«
»Kingsley?« Susan durchfuhr ein eisiger Schreck. In den letzten Wochen hatte sie diesen Namen so häufig aus Esperanzas Mund gehört, dass sie sofort wusste, wer er war. Dennoch fragte sie: »Mr. Kingsley vom Pigeon Theatre in New York?«
»Ebendieser.« Kingsley erhob sich aus dem Sessel und kam einen Schritt auf Susan zu. Er war ein großer, breitschultriger Mann, der zur Fülligkeit neigte, und er musste die fünfzig bereits überschritten haben. Er deutete eine Verbeugung an. »Ich habe Sie heute Abend auf der Bühne gesehen, Miss Peggy. Eigentlich bin ich gekommen, um unseren neuen Star zu erleben und Miss Montoya nach New York zu begleiten. Ich muss schon sagen, es war ein furchtbarer Schreck, zu erfahren, dass sie so schwer erkrankt ist.«
»Oh!« Mehr fiel Susan dazu nicht ein, darum sagte sie rasch: »Es tut mir so leid, was mit Esperanza Montoya geschehen ist. Wir hoffen alle, dass sie bald wieder gesund ist und ihre Reise nach New York noch rechtzeitig antreten kann.«
Kingsley schüttelte bedauernd den Kopf und sagte: »Selbstverständlich hoffe auch ich auf eine baldige Genesung, aber mit dem Engagement am Broadway ist es vorbei. Unser Schiff geht in drei Tagen, und die Proben beginnen unmittelbar nach unserer Ankunft in New York. Die Premiere ist in vier Wochen, das halbe Haus ist bereits jetzt ausverkauft, und Mr. Taft höchstpersönlich wird zu dieser Vorstellung erwartet.«
»William Taft? Der Präsident?« Susan schnappte nach Luft. Esperanza hatte bisher nicht erwähnt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten höchstpersönlich der Premiere beiwohnen wollte. Wahrscheinlich hatte sie es nicht gewusst, denn Susan konnte sich kaum vorstellen, sie hätte mit dem Wissen hinterm Berg gehalten, vor dem mächtigsten Mann der Welt aufzutreten.
Kingsley lächelte sichtlich entzückt über Susans Überraschung. Er forderte sie auf, sich einmal im Kreis zu drehen.
»Sie sind eine gute Schauspielerin, Miss Peggy, davon habe ich mich heute Abend persönlich überzeugen können, und Ihre Stimme ist klar und kräftig. Gut, Sie verfügen zwar nicht über die Eleganz und den Charme wie Esperanza Montoya, machen das jedoch mit einer natürlichen Anmut, die einen fast an Unschuld denken
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