Das Lied der Luege
Geschwister, zu denen auch Susan gehörte, zum Abschlusslied die Bühne betraten, taumelte Esperanza und wäre gestürzt, wenn Susan sie nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.
»Du bist glühend heiß!« Susan war nun ernsthaft besorgt. »Theo, ich glaube, Esperanza hat Fieber.«
»Verdammt!« Theos Stockspitze knallte auf den Boden, als er auf die Bühne hinaufhumpelte, sein Blick war jedoch besorgt. »Musst du ausgerechnet heute krank werden?«
Esperanza bemühte sich um ein Lächeln, was jedoch sehr gequält aussah. »Es tut mir leid, aber ich fühle mich seit dem Aufstehen schon so komisch. Mir ist gleichzeitig heiß und kalt, und seit ein paar Stunden juckt meine Haut so furchtbar.«
Susan schob den Kragen von Esperanzas Kleid zur Seite und erschrak. Der schmale, sonst schneeweiße Hals war mit roten Flecken übersät. Auch Theo und die anderen hatten den Ausschlag gesehen.
»Wir müssen den Arzt holen«, sagte Susan, und Theo nickte. Er rief nach Pete und schickte den Jungen zu Doktor Croggan, der alle Schauspieler betreute und auch Susans Schlüsselbeinbruch behandelt hatte. Gemeinsam brachten sie Esperanza in die Garderobe und legten sie aufs Sofa. Dankbar nahm sie ein Glas Wasser, das Kay ihr reichte, und Susan befeuchtete einen Lappen und legte diesen auf die fieberheiße Stirn.
»Es tut mir so leid …«, wiederholte Esperanza. Ihre Stimme schien von Minute zu Minute schwächer zu werden. »Es ist sicher nur eine leichte Grippe … mein Schiff geht am Mittwoch …«
Theo und Susan tauschten einen kurzen Blick. Sie dachten beide das Gleiche – wenn Esperanza eine ernsthafte Krankheit ausbrütete, dann würde es wohl nichts mit ihrer Reise nach New York werden.
»Du spielst heute Abend die Hauptrolle.« Theo wandte sich an Susan. »Geübt hast du sie ja oft genug, nicht wahr? Ob erst nächste Woche oder bereits heute, das ist eigentlich egal.«
Susan nickte, aber ihr war beklommen zumute. Natürlich war sie perfekt auf die Rolle der Gloria vorbereitet, diese jedoch so plötzlich zu übernehmen, ließ Susans Puls in die Höhe schnellen.
Als der Doktor kam und einen Blick auf Esperanza warf, bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen.
»Ich denke, es sind die Masern«, sagte er ernst. »In der letzten Woche gab es zwei Dutzend Fälle in London, und nicht immer sind es Kinder, die sich infizieren.«
»Aber ich werde doch nach New York fahren können?« Bang stellte Esperanza die Frage.
Doktor Croggan, der über Esperanzas große Chance in Amerika informiert war, schob seine Brille, die ihm immer wieder auf die Nasenspitze rutschte, nach oben und schüttelte den Kopf. Er war kein sehr feinfühliger Mann, und gerade mit Künstlern, die gerne mit Samthandschuhen angefasst werden wollten, ging er besonders direkt um.
»Miss Montoya, wenn es wirklich die Masern sind, dann werden Sie nirgendwohin reisen. Jetzt nicht und auch nicht in ein paar Wochen.«
»Das geht nicht!« Esperanza stemmte sich hoch, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe ein Engagement in New York. Doktor, verstehen Sie? Ich soll am Broadway auftreten! Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet?«
Doktor Croggan blieb von Esperanzas Ausbruch unberührt.
»Meine Liebe, Sie müssen froh sein, wenn Sie die Krankheit überhaupt überleben.«
Bei diesen harten und direkten Worten zog Susan scharf die Luft ein. Zwar las man immer wieder, dass Menschen an den Masern starben, aber waren das nicht nur Kinder, Alte oder Geschwächte? Esperanza hingegen war kräftig, bisher immer gesund gewesen und wirkte nicht so, als stünde sie bereits an der Schwelle des Todes.
»Ich werde veranlassen, dass man Sie ins Hospital bringt«, sagte der Arzt. »Wir müssen Sie isolieren und können nur hoffen, dass sich niemand von Ihren Kolleginnen bereits angesteckt hat.«
Sofort begannen Hetty, Joan und Kay, ihre Arme nach den verräterischen roten Flecken abzusuchen, auch Susan fuhr der Schreck in die Glieder. Sie fühlte sich jedoch völlig gesund und wollte sich nicht unnötig beunruhigen.
Theo scheuchte sie alle zurück auf die Bühne, allerdings war an eine Fortsetzung der Probe nicht mehr zu denken.
»Glaubt ihr, sie kann wirklich daran sterben?«
»Du hast den Arzt gehört. Viele Menschen sterben an den Masern.«
»Wie schrecklich für Esperanza! Jetzt kann sie nicht nach New York fahren.«
»Das geschieht ihr ganz recht.«
Die letzte Bemerkung kam von Joan, und Susan fuhr sie barsch an: »Wie kannst du so etwas sagen?
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