Das Lied der Luege
nicht mich, sondern Esperanza während seines Aufenthaltes in London engagiert. Mr. Kingsley hat ihm lediglich telegrafiert, dass er nun mit einer anderen Schauspielerin nach New York kommt. Wer weiß, vielleicht ist Schneyder keinesfalls von meinem Talent überzeugt, oder meine Nase passt ihm ganz einfach nicht. Dann werde ich den Vertrag erfüllen und bin ruck, zuck, ehe ihr es euch verseht, wieder in London.«
Doro und Hetty waren nicht überzeugt. Hetty schneuzte in ihr Taschentuch, dann griff sie nach einem eleganten, taubenblauen Kleid mit einem mit zahlreichen kleinen Perlen bestickten Überrock aus zartem, durchscheinendem Stoff.
»Möchtest du dieses Kleid auch mitnehmen?«
Susan nickte, nahm Hetty das Kleid aus der Hand und legte es zusammen.
»Es ist das beste, das ich habe.«
»Was ist das eigentlich für ein Schiff, mit dem du nach Amerika fährst?«, fragte Doro. »Vielleicht musst du dich ja jeden Tag dreimal umziehen und beim Dinner in großer Abendgarderobe erscheinen?«
»Mr. Kingsley hat gemeint, ich solle alle meine eleganten Kleider einpacken«, erwiderte Susan und runzelte die Stirn. »Offenbar sind in Amerika Schauspieler anerkannte Mitglieder der besseren Gesellschaft und verkehren auch in dieser. Er meinte, es kämen zahlreiche Einladungen und Empfänge auf mich zu, für die ich gewappnet sein muss. Über das Schiff weiß ich nichts, denn Mr. Kingsley hat die Fahrkarten. Er wollte gleich am Montag in das Londoner Büro der Schifffahrtslinie gehen und diese auf meinen Namen umschreiben lassen. Ich habe lediglich irgendein Formular ausfüllen, unterschreiben und ihm meinen Pass geben müssen.«
»Nun, es wird wohl ein größeres Schiff sein«, bemerkte Hetty und betrachtete die Auswahl von Susans Hüten. »Ich denke, du brauchst mindestens vier, am besten fünf verschiedene Hüte. Hoffentlich weht der Seewind keinen ins Meer.«
Die drei Frauen lachten, und die Zeit verging wie im Flug. Keine von ihnen war müde, und je weiter die Zeit voranschritt, desto aufgeregter wurde Susan. Sie war zwar schon oft aufs Festland gereist, doch eine so weite Reise hatte sie vorher noch nie unternommen. Die Ankunft in New York war für kommenden Dienstagabend vorgesehen. Das bedeutete sechs Tage auf See.
Pünktlich um vier Uhr am Morgen hielt das von Leonard Kingsley gemietete Automobil vor Susans Haus. Der Zug, der sie zur Küste bringen sollte, ging eine Stunde später. Nachdem ihr Gepäck verladen war, stand Susan leicht verlegen vor ihren Freundinnen.
»Sollen wir nicht doch zum Bahnhof mitkommen?«, fragte Doro, aber Susan schüttelte den Kopf und versuchte, unbekümmert zu lächeln.
»Ich hasse Abschiedsszenen an Bahnhöfen. Lasst uns hier auf Wiedersehen sagen.«
»Ja, auf Wiedersehen und nicht adieu«, rief Hetty und umarmte Susan.
»Meine Damen, ich möchte nicht drängen, aber der Zug wartet nicht.« Leonard Kingsley mahnte zum Aufbruch.
Eine letzte Umarmung, dann stieg Susan in das Automobil. Etwas völlig Neues lag vor ihr, und sie war gespannt, was sie auf der anderen Seite des Atlantiks erwarten würde.
Der Trubel am Hafen von Southampton war unbeschreiblich. Susan, an die hektische Betriebsamkeit großer Städte wie London, Brüssel oder Paris gewöhnt, fühlte sich hier wie in einem Hexenkessel, der brodelnd aufkochte, je näher sie dem Kai kamen, von dem aus das Schiff ablegen würde. Am Bahnhof hatte Kingsley eine Droschke gemietet – ein Automobil hatte nicht zur Verfügung gestanden –, die sie und das Gepäck zum Schiff brachte. Nun jedoch steckte die Kutsche in der Menschenmenge fest, und es ging keinen Meter mehr voran. Susan war es, als hätte sich halb England im Hafen von Southampton versammelt. Kurzentschlossen stieg Kingsley aus und reichte Susan die Hand.
»Kommen Sie, Miss Peggy, wir sind schneller, wenn wir zu Fuß gehen.«
»Was ist mit dem Gepäck?«
»Ich werde dem Zahlmeister sagen, dass die Zufahrtswege hoffnungslos verstopft sind. Das Schiff wird warten müssen, bis alle Passagiere an Bord und alles Gepäck verladen worden ist.«
Kingsley bezahlte den Kutscher und gab ihm die Anweisung, sich irgendwie zur Gepäckverladestelle durchzuschlagen, dann umschloss seine Hand fest Susans Oberarm. Kingsley drängte sich rücksichtslos durch die Menschenmenge und schubste die Leute, die ihm im Weg standen, einfach zur Seite. Susan fing Gesprächsfetzen auf, dass aufgrund des vorausgegangenen Kohlestreiks mehr Schiffe als sonst im Hafen ankerten und die
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