Das Lied der Luege
Steward Tee einschenken und bestellte ihr Frühstück. Kingsley winkte ab, als er nach seinen Wünschen gefragt wurde, und begnügte sich mit Kaffee.
»Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Ich habe ein paar Herren getroffen, die sich auf das Pokerspiel verstehen.« Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Kingsley. »Ich habe jetzt zwar einen ausgewachsenen Kater, denn die Herren können nicht nur spielen, sondern auch jede Menge vertragen, dafür befindet sich in meiner Börse ein hübsches Sümmchen.«
»Wie schön«, murmelte Susan, die von Glücksspiel nichts hielt. »Passen Sie nur auf, dass es Ihnen nicht gestohlen wird.«
Kingsley schüttelte den Kopf.
»Keine Sorge, Miss Peggy. Ich habe das Geld bereits heute Morgen beim Zahlmeister im Safe deponiert.« Er nahm einen Schluck Kaffee, der ihn offenbar belebte, denn langsam kehrte Farbe in seine Wangen zurück. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn wir unsere heutige Lektion erst am Nachmittag fortsetzen? Ich glaube, ich lege mich noch ein wenig hin.«
Susan war das mehr als recht. Durch die Fenster sah sie, dass es ein herrlicher und sonniger Morgen war. Sie beeilte sich mit dem Frühstück und ging dann in die Bibliothek. Dieser große, helle, mit bequemen Sofas, Sesseln und Stehpulten eingerichtete Raum war gemütlich und vollständig mit Mahagoni ausgestattet. Durch die Fenster war ein geschützter Korridor zu sehen, in dem Kinder spielten und lachend einen Ball hin und her warfen. Susan wählte aus dem vielfältigen Sortiment einen Roman und begab sich auf das Promenadendeck. Wie am Tag zuvor war die See ruhig und der Himmel beinahe wolkenlos. Die Luft war etwas kühler geworden, aber Susan fand einen Liegestuhl mit einer dicken Decke, in die sie sich einhüllte. Sie schlug die erste Seite des Buches auf, merkte aber schnell, dass sie sich nicht auf das Geschriebene konzentrieren konnte. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Tief atmete sie die frische Seeluft ein, ließ sich die Sonne auf das Gesicht scheinen und verfolgte Gesprächsfetzen der vorbeiflanierenden Passagiere.
»Verzeihung, darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« Susan erkannte die Stimme sofort, und ihr Herz begann ein paar Takte schneller zu schlagen. Sie öffnete die Augen und blickte Daniel Draycott freudig an.
»Selbstverständlich.«
Er zog einen Liegestuhl neben den ihren und setzte sich.
»Was für ein herrlicher Morgen. Etwas kühl, aber was können wir um diese Jahreszeit in dieser Gegend anderes erwarten?«
»Ich finde es wunderschön«, entgegnete Susan. »An kühle Temperaturen sind wir Engländer gewöhnt.«
»Vorhin habe ich zufällig ein Gespräch zwischen Bruce Ismay und dem Kapitän mit angehört.« Daniels Gesicht wurde plötzlich ernst. »Ismay forderte Smith auf, die Geschwindigkeit zu erhöhen und auch den letzten Kessel zu heizen, damit das Schiff einen Tag früher als erwartet in New York eintrifft.«
»Oh, das würde ich bedauern, denn ich genieße die Reise.«
Daniel lachte. »Das tut wohl jeder hier an Bord. Wo sonst werden wir derart verwöhnt und genießen einen solchen Luxus.« Er wurde wieder ernst. »Ich habe die Fahrt über den Nordatlantik schon mehrmals unternommen, zuletzt mit der Olympic, dem Schwesterschiff der Titanic. Es wurde ebenfalls von Kapitän Smith befehligt. Damals kam es zu einer Kollision mit einem britischen Kreuzer. Das Schiff wurde nicht schwer beschädigt, es war jedoch eine umfangreiche Reparatur erforderlich. Das ist auch der Grund, warum sich die Fertigstellung und damit die Jungfernfahrt der Titanic um drei Wochen verzögerte.«
Susan sah Daniel interessiert an.
»Das ist mir neu. Ich wusste nicht, dass die Titanic ursprünglich früher nach Amerika fahren sollte. Nun, der Unfall mit ihrem Schwesterschiff ist unser Glück, nicht wahr? Sonst würden wir jetzt nicht hier sitzen. Wissen Sie, Mister … Daniel, dass ich das Engagement ganz kurzfristig erhielt?« Susan wusste nicht, warum sie Daniel von Esperanza Montoya und deren plötzlicher Erkrankung erzählte, die ihr diese überraschende Chance geboten hatte.
Daniel lauschte aufmerksam und interessiert.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Leben als Schauspielerin«, bat er.
»Oh, da gibt es nicht viel zu erzählen. Bisher bin ich auf einer eher kleinen, aber feinen Bühne in London aufgetreten. Wir tourten durch das ganze Land, hatten aber auch einige Engagements außerhalb Englands. Hauptsächlich in Belgien und Frankreich.«
»Bitte, erzählen Sie weiter,
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