Das Lied der Luege
ich höre Ihnen gerne zu.«
Daniel Draycott schien sich wirklich für Susans Arbeit zu interessieren, und so verging der Vormittag mit angenehmer Plauderei. Daniel wurde Susan von Minute zu Minute sympathischer, und sie bedauerte, dass sie in wenigen Tagen ihr Ziel erreicht haben und sich ihre Wege trennen würden.
Als das Signal zum Mittagessen erklang, führte Daniel Susan in den Speisesaal, wo sie auch wieder auf Leonard Kingsley trafen. Die Ruhe hatte ihm gutgetan, von den Ausschweifungen der letzten Nacht war nichts mehr zu erkennen. Allerdings runzelte er unwillig die Stirn, als Susan an Daniels Arm den Speisesaal betrat und er ihr den Stuhl hinschob. Ohne Kingsley zu fragen, nahm Daniel an ihrem Tisch Platz.
Das Gespräch verlief zwanglos, nachdem sich andere Passagiere zu ihnen gesellt hatten. Man sprach über das Wetter, hoffte, in New York würde bald der Frühling einziehen, und lobte den erstklassigen Service auf der
Titanic
. Jeder von ihnen, der bereits mit anderen Schiffen den Ozean überquert hatte, bestätigte, dass die Reise mit der
Titanic
ein unvergleichliches Erlebnis war, das niemand von ihnen jemals vergessen würde.
Die nächsten zwei Tage verliefen in gleichförmiger Routine, und das Wetter blieb trocken, aber kühl. Jeden Vormittag und jeden Nachmittag unterwies Kingsley Susan in der amerikanischen Lebensart und sprach dabei auch zum ersten Mal von dem Stück, in dem sie auftreten sollte. Es handelte sich um eine Oper, geschrieben von einem Amerikaner, dessen Namen Susan nichts sagte, der sich an der Ostküste jedoch großer Beliebtheit erfreute. Zu Susans Erleichterung verlangte Kingsley keinen zweiten Auftritt mehr von ihr, und sie verbrachte viele Stunden mit Daniel Draycott, der sich ihr gegenüber nach wie vor höflich und aufmerksam zeigte. Rose Cassidy sah Susan nicht wieder, obwohl sie mehrmals auf das Deck der dritten Klasse hinunterschaute.
Am Sonntag hielt der Zahlmeister eine Morgenandacht im Salon, die auch Susan, Kingsley und Daniel besuchten. Als sie später an Deck ging, bemerkte Susan eine drastische Temperaturveränderung, so dass sie es vorzog, wieder hineinzugehen, obwohl ihr die kühle Luft eigentlich nichts ausmachte. Am heutigen Tag war es jedoch nicht nur kalt, sondern regelrecht eisig. Auf keinen Fall wollte sie sich der Gefahr einer Erkältung oder gar Lungenentzündung aussetzen, die ihr Engagement gefährden könnte. In der Halle, von der eine breite und geschwungene Freitreppe zu den anderen Decks führte, fing Kingsley sie ab.
»Ah, Miss Peggy, schön, Sie allein zu treffen. Ich fürchtete schon, dieser aufdringliche Anwalt hat Sie wieder mit Beschlag belegt.«
»Meinen Sie Mister Draycott?«, fragte Susan erstaunt. »Ich finde seine Aufmerksamkeit keinesfalls aufdringlich, im Gegenteil. Er ist ein angenehmer Unterhalter.«
Leonard Kingsleys Augen verengten sich, sein Tonfall war schneidend, als er sagte: »In London und an dem Theater, wo Sie bisher waren, mögen lockere Sitten herrschen, am Pigeon-Theatre jedoch nicht. Merken Sie sich das, Peggy.« Susan war über Kingsleys Verärgerung überrascht und registrierte nur am Rande, dass er plötzlich das Miss in der Anrede wegließ. »Nathan Schneyder wird keine Schauspielerin, die sich dem Erstbesten an den Hals wirft, in seinem Ensemble dulden.«
»Mr. Kingsley, ich muss doch sehr bitten.« Susan schnappte nach Luft. »Mr. Draycott und ich sind lediglich Reisende, die gute Konversation zu schätzen wissen.«
»
Ich
bin die Person, mit der Sie zu sprechen haben.« Kingsley kam Susan so nahe, dass sie seinen Atem auf ihren Wangen spürte. »Vergessen Sie nicht, dass Sie es ausschließlich mir zu verdanken haben, dass Sie sich heute hier auf diesem Schiff befinden. Ohne mich würden Sie in dem kleinen Theater in London versauern, bis Sie zu alt sind, um überhaupt noch auf der Bühne zu stehen. Von heute an werden Sie nicht mehr von meiner Seite weichen, und Ihre Gespräche mit Draycott werden sich auf das Mindestmaß der Höflichkeit bei Tisch beschränken. Haben Sie verstanden, Peggy?«
Susans Atem ging stoßweise. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Kingsley hatte nicht unrecht, das gab ihm aber noch lange nicht die Befugnis, sie wie sein Eigentum zu behandeln. Bevor sie etwas erwidern konnte, packte Kingsley sie an der Hand und zog sie einen Gang hinunter bis vor den Aufzug, der die einzelnen Decks miteinander verband. Nachdem der Aufzugsführer die Tür geöffnet hatte, sagte Kingsley:
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