Das Lied der Luege
hatte ihren Stimmungswechsel bemerkt. »Eben waren Sie noch voller Zuversicht, doch plötzlich wirken Sie, als sähen Sie alle Ihre Felle davonschwimmen. Dafür gibt es keinen Grund. Selbst wenn dieser Schneyder Ihr Engagement nicht bestätigt – dann fahren Sie eben wieder nach London zurück. Sie haben dort doch nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen?«
»Nein, nein, zum Glück nicht«, versicherte Susan schnell. Es fiel ihr schwer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, jetzt, da sie sich ihrer Gefühle für Daniel bewusst geworden war. »Meine Wohnung habe ich untervermietet, und Theo … der Besitzer des Blue Horizon, nimmt mich sicher wieder in seine Truppe auf, aber …«
»Sie hoffen auf die große Karriere in den Staaten«, vollendete Daniel den Satz, und aus seinem Mund klang das keineswegs ironisch, sondern voller Verständnis. »Nun, ich denke, der Broadway wird Ihnen die Chance geben, auch wenn Ihnen Kingsley in der Zeit das Leben schwermachen wird. Wenn es Ihnen nach den drei Monaten nicht mehr gefällt, fahren Sie nach Hause. Ich bin jedoch überzeugt, die Menschen in New York werden Sie so bald nicht mehr gehen lassen, wenn sie Sie erst singen gehört haben.«
»Danke, Sie sind sehr nett«, entfuhr es Susan, und sie hoffte, nicht zu auffällig zu erröten. »Ich denke, ich sollte jetzt das Telegramm an Theo aufgeben. An wen muss ich mich hier diesbezüglich wenden?«
Daniel bot ihr seinen Arm.
»Ich zeige Ihnen das Büro. Heute Abend wird Theo Ihre Nachricht haben, und wenn er gleich an Schneyder telegrafiert, dann wird Kingsley wahrscheinlich sein blaues Wunder erleben, sobald er in New York von Bord geht.«
Im Büro des Zahlmeisters nahm ein Offizier Susans Telegramm entgegen.
»Es kann aber einige Stunden dauern, bis Ihr Text übermittelt werden kann«, sagte er bedauernd. »Heute scheinen fast alle Passagiere Nachrichten verschicken zu wollen, vielleicht weil Sonntag ist. Beide Funker arbeiten ohne Pause, sie können den Stapel an Telegrammen jedoch kaum bewältigen.«
»Mein Telegramm ist aber sehr wichtig.« Eindringlich sah Susan den Mann an und setzte ein bezauberndes Lächeln auf, das nicht ohne Wirkung blieb.
»Ich werde sehen, was ich machen kann, Miss.«
Susan war bereits an der Tür, als Daniel fragte: »Ich hörte, auf dem Schiff gäbe es einen Safe, in dem man seine Wertsachen deponieren kann.«
»Das ist richtig. Die Obhut darüber unterliegt mir.«
»Ein Bekannter dieser Dame hat ihre Papiere dort eingeschlossen«, fuhr Daniel fort, und Susan dankte ihm im Stillen für seine Hilfe. »Wäre es möglich, dass Sie ihr diese aushändigen?«
Der Offizier nickte und lächelte freundlich.
»Selbstverständlich gerne, wenn Sie mir bitte den Kontrollabschnitt aushändigen.«
»Den hat doch mein Bekannter«, sagte Susan. »Ich möchte nur kurz meinen Pass und etwas Bargeld dem Safe entnehmen.«
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes blieb unveränderlich.
»Es tut mir leid, ich kann den Safe nur öffnen, wenn mir der entsprechende Kontrollabschnitt vorliegt. Sonst könnte ja jeder kommen, und die Einlagen wären nicht mehr sicher. Das werden Sie bestimmt verstehen, nicht wahr? Ich bin aber noch etwa eine Stunde in meinem Büro, kommen Sie mit Ihrem Bekannten einfach wieder hierher, dann kann ich Ihnen das Gewünschte geben.«
Susan ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, sondern murmelte nur ein leises »Danke« und verließ zusammen mit Daniel das Büro. Draußen zuckte er die Schultern und meinte: »Nun ja, es war einen Versuch wert.«
Sie wollten gerade den Bereich des Schiffes verlassen, als der Offizier plötzlich die Tür öffnete und einen der Stewards, die stets in den Gängen standen, zu sich rief. Susan und Daniel bekamen mit, wie der Offizier dem Steward einen Zettel in die Hand drückte.
»Eben kam wieder eine Eiswarnung herein. Bereits die dritte heute. Bring sie sofort auf die Brücke zum Captain.«
»Aye, Sir!« Der Steward, kaum älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre, salutierte und eilte davon.
»Eiswarnung?« Susan drückte Daniels Arm. »Was hat das zu bedeuten?«
»Um diese Jahreszeit nichts Besonderes«, beruhigte Daniel sie. »Wir durchfahren nördliche Gefilde, wo das Eis noch nicht vollständig getaut ist. Da kann es schon mal sein, dass man auf Eisberge trifft, die das Schiff jedoch weiträumig umfahren wird.«
Da sie beide keinen Hunger verspürten, ließen sie das Mittagessen ausfallen und gingen auf das Promenadendeck,
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