Das Lied der Luege
beschäftigt.«
»Was?«, rief Susan erstaunt, senkte aber sogleich ihre Stimme, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. »Dann bringen Sie mich zu jemand anderem, ich möchte Geld von meinem Konto abheben.«
Der Blick aus den wasserhellen Augen des Herrn glitt erneut abschätzend über Susans einfaches Kleid. Da es warm war, trug sie keinen Mantel, sondern hatte sich nur ein leichtes Schultertuch umgelegt. Susan konnte die Gedanken des Mannes regelrecht spüren, der wohl bezweifelte, dass eine Frau wie sie bei diesem exklusiven Bankhaus ein Konto hatte.
Er räusperte sich kurz, schob geschäftsmäßig ein paar Papiere zur Seite und fragte: »Wie lautet Ihr Name, Miss?«
»Hexton«, antwortete Susan und setzte eine arrogante Miene auf. »
Mrs.
Susan Hexton.«
»Einen Moment bitte.« Er zog ein dickes, in dunkelblaues Leder gebundenes Buch unter dem Tisch hervor, suchte nach dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens, schlug an dieser Stelle auf, und sein kurzer, dicklicher Zeigefinger fuhr über die Namenslisten. Dann hob er den Kopf und sah Susan erneut an. »Können Sie sich ausweisen?«
Susan seufzte kurz. Sie hatte diese Frage befürchtet. Aus ihrer Rocktasche holte sie einen Umschlag und legte ihn auf den Tresen.
»Ich hatte gehofft, Mr. Noland sprechen zu können, er kennt mich persönlich. Ich war auf dem Schiff Titanic, und meine sämtlichen Papiere, die ich im dortigen Safe deponiert hatte, liegen nun auf dem Grund des Meeres.« Sie entnahm dem Umschlag ein Schreiben und schob es dem Mann zu. »Hier, das ist eine Bestätigung des Konsulates in Amerika, mit der ich die Rückreise antreten und nach England einreisen konnte, wo ich gestern ankam. Ich muss mir erst wieder neue Papiere ausstellen lassen.«
Der Bankmitarbeiter studierte mit unbewegter Miene das Dokument, dann gab er Susan die Papiere wieder zurück und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Dann tun Sie das, Mrs. Hexton. Kommen Sie bitte wieder, wenn Sie sich legitimieren können.«
»Aber, Sir …« Susan beherrschte sich und sagte betont ruhig: »Ich brauche sofort ein wenig Geld von meinem Konto. Wo kann ich Mr. Noland finden? Wie gesagt, er kennt mich persönlich und wird bestätigen, dass ich die Inhaberin des Kontos bei Ihrer Bank bin.«
Der Herr ließ sich nicht beeindrucken. Er zuckte die Schultern und meinte: »Mr. Noland hat uns von einem Tag auf den anderen ohne Angabe eines Grundes und unter Missachtung der Kündigungszeit verlassen. Sein Aufenthaltsort entzieht sich meiner Kenntnis. Auch wenn Sie mit diesem Herrn wiederkommen würden, dürfte ich Ihnen keine Auskünfte zu Ihrem Konto geben, da Mr. Noland kein Mitarbeiter von Manson und Hailsham mehr ist.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Um Susans Beherrschung war es beinahe geschehen. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang, mit der Faust auf den Tresen zu hauen. »Hier steht doch, dass ich als Passagierin der Titanic alles verloren habe. Wenn unsere strengen Grenzer mich in Liverpool von Bord gehen und in unser Land einreisen ließen, dann wird es doch wohl möglich sein, etwas Geld von meinem Konto abzuheben, oder?«
Die Lippen des Mannes pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen. So leise, dass Susan ihn nur mit Mühe verstand, sagte er: »Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, sonst sehe ich mich gezwungen, den Wachdienst zu rufen. Wir müssen Rücksicht auf unsere Kunden nehmen.«
Wütend drehte Susan sich um. Nun, dann würde sie eben gleich zum zuständigen Amt gehen und sich einen neuen Pass ausstellen lassen. Hoffentlich dauerte das nicht zu lange, denn ihre Barmittel waren begrenzt. Sobald sie wieder über ihr Konto verfügen konnte, wollte sie sich als Erstes eine neue Bank suchen, bei der man sie freundlicher behandelte.
»Hoppla! Verzeihen Sie vielmals, Miss …« In ihrer Erregung hatte Susan nicht auf den Weg geachtet und war mit einem hochgewachsenen Mann zusammengeprallt, der sogleich seinen Hut zog und sich entschuldigen wollte, doch dann weiteten sich seine Augen, und er stieß hervor: »Du meine Güte, Susan! Ich dachte …«
»Ich bin nicht tot, wie du siehst«, entgegnete Susan spöttisch. »Am besten hänge ich mir ein Schild um den Hals, damit ich diese Frage nicht immer wieder beantworten muss.«
Sie seufzte verhalten. Dass sie ausgerechnet hier mitten in der Schalterhalle auf Stephen Polkinghorn treffen musste, war ihr alles andere als angenehm. Sie versuchte, an ihm vorbeizugehen.
»Du entschuldigst mich bitte? Ich habe noch viel zu
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