Das Lied der Luege
schlicht, aber von bester Qualität. Offenbar schien es Rosalind gutzugehen.
Die Frauen warteten, bis der Tee gezogen und sie beide einen Schluck genommen hatten, dann legte Rosalind eine Hand auf Susans Arm.
»Warum hast du mir nie geschrieben?«, wiederholte sie ihre Frage.
Susan zuckte mit den Schultern und wich Rosalinds Blick aus.
»Wir gehören einer unterschiedlichen Gesellschaftsschicht an, daher …«
»Das ist Unsinn!«, unterbrach Rosalind. »Als ich dich traf, war ich am Ende, körperlich wie auch seelisch, und besaß außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trug, nichts mehr. Du hast dich trotzdem um mich gekümmert. Niemals werde ich vergessen, wie du mir dein Schultertuch geschenkt hast, weil ich keines hatte und fror. Du hast meinen Brief doch erhalten, oder?«
Susan nickte. »Darin hast du aber auch geschrieben, dass Lady Lavinia nicht möchte, dass ich dich besuche. Daher dachte ich, es wäre besser so.«
»Lavinia …« Den Ausdruck in Rosalinds Augen konnte Susan nicht deuten. »Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken kann, dass du damals zu meiner Schwägerin gegangen bist, obwohl ich mit der Familie nie wieder etwas zu tun haben wollte. Mein Bruder ignoriert mich zwar, so gut es geht, für ihn werde ich immer die Frau bleiben, die den Ruf der Familie ruiniert hat, Lavinia und meine Mutter haben mich jedoch gut aufgenommen. Und Lavinias Tochter, Anabell, ist ein entzückendes Kind! Ich könnte die Kleine den ganzen Tag herzen und küssen, und das Mädchen scheint mich auch zu mögen …«
Mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck erzählte Rosalind von Anabell, und Susan musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Worte sie aufwühlten. Nicht umsonst war sie eine gute Schauspielerin gewesen, so lächelte sie, während ihr Herz blutete.
»Ich hörte, du lebst jetzt dauerhaft hier?«, fragte Rosalind plötzlich. »Ich wusste nicht, dass du eine Beziehung nach Cornwall hast? Verwandte vielleicht?«
Susan schüttelte den Kopf.
»Vor ein paar Jahren war ich mal eine Zeitlang in der Gegend, und ich dachte, es wäre gut für Jimmy, aus der Stadt rauszukommen.«
»Jimmy? Dann lebt dein Sohn endlich bei dir?«
In knappen Worten berichtete Susan von Pauls Tod. Rosalind gegenüber verschwieg sie auch nicht den Rest des Geldes, denn die Freundin hatte in London ja alles miterlebt.
»Jimmy und ich fühlen uns hier sehr wohl«, endete sie. »Er hat sogar schon Freunde gefunden, und die Schule macht ihm Spaß.«
Rosalind warf einen Blick auf die Uhr und stand auf.
»Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Ich habe Anabell versprochen, heute Nachmittag mit ihr zu spielen. Lavinia wird ja mal wieder ruhen …« Sie verstummte, und Susan hakte sofort nach.
»Ist Lady Lavinia krank?«
Rosalind zögerte, dann schüttelte sie den Kopf und seufzte.
»Richtig krank würde ich es nicht nennen, wir wissen jedoch nicht, woran sie leidet. Manchmal ist sie fröhlich und unternehmungslustig, dann wieder gibt es Tage, an denen sie kaum ihr Zimmer verlässt, und sie weint sehr viel. Ich versuche dann, Anabell abzulenken, denn das Kind ist über die Stimmungsschwankungen ihrer Mutter völlig verwirrt.«
Susan wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, daher begleitete sie Rosalind wortlos zur Tür. Erst, als diese sich mit einem festen Händedruck verabschiedete und Susan das Versprechen abnahm, sich künftig regelmäßig zu treffen, fragte sie: »Woher weißt du eigentlich, dass ich hier lebe? Ich nehme nicht an, ihr auf Sumerhays habt viel Kontakt zu den Dorfbewohnern.«
»Nein, ein Nachbar und Bekannter von Lavinia erwähnte es. Stephen Polkinghorn, er lebt mit seiner Familie nicht weit von Sumerhays entfernt. Da er an der Front verwundet wurde und derzeit zu Hause ist, haben er und seine Frau uns gestern besucht, und er erwähnte, er wäre dir in Polperro begegnet.« Skeptisch sah Rosalind Susan an. »Sir Stephen wollte allerdings nicht sagen, woher ihr euch kennt.«
Schnell suchte Susan nach einer plausiblen Erklärung.
»Ich sagte bereits, dass ich früher einmal in dieser Gegend lebte. Dabei sind wir uns ein oder zwei Mal begegnet.«
Susan konnte nicht einschätzen, ob Rosalind ihr glaubte, auch wusste sie nicht, was Lavinia erzählt hatte. Während die Freundin die Straße hinunterging und Susan ihr nachsah, dachte sie zum ersten Mal, dass es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, nach Cornwall zu kommen.
Susan wunderte sich nicht,
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