Das Lied der Luege
verfügte Stephen über mehr Geld, als sie jemals in ihrem Leben verdienen konnte, und um Sex ging es ihm bestimmt auch nicht, obwohl er früher versucht hatte, sich ihr zu nähern. Was konnte es also sonst sein, das Stephen veranlasste, in ihrem und Lavinias Geheimnis herumzustochern?
»Er hat keinen Beweis!«, sagte Susan laut zu sich selbst. »Keinen einzigen! Es ist nur eine Vermutung von ihm.«
Lavinia Callington würde kein Wort sagen, dessen war sich Susan sicher, wenngleich sie Rosalinds Aussage über Lavinias Verhalten nachdenklich gemacht hatte. Stephen meinte, dass Anabell ihr, Susan, sehr ähnlich sehe. Hatte Rosalind das auch bereits bemerkt? Über Zenobia machte sie sich keine Gedanken, Susan war Lavinias Schwiegermutter nie begegnet. Aber Rosalind war täglich mit Anabell zusammen und hatte nun auch sie, Susan, wiedergesehen. Wenn es stimmte, was Stephen sagte – würde Rosalind die Ähnlichkeit dann früher oder später auffallen?
»Wenn jemand keinen Verdacht hat, wie Stephen ihn hegt, dann wird niemand auf eine Ähnlichkeit achten«, murmelte Susan. »Du musst dich zusammenreißen.«
Für einen Moment dachte Susan daran, Cornwall zu verlassen und irgendwo in den Norden zu gehen. Nach Yorkshire oder am besten gleich nach Northumberland an der schottischen Grenze. Dort würde sie sicher niemandem begegnen, den sie kannte. Susan wusste aber auch, dass sie nicht wieder davonlaufen konnte, außerdem würde es schwer werden, das Cottage zu demselben Preis, für den sie es erworben hatte, zu verkaufen. Es war schließlich Krieg. Jimmy hatte hier Freunde gefunden und trauerte allmählich nicht mehr so heftig um seinen Vater. Er würde Paul zwar nie vergessen – das war auch gut so –, der Junge sprach aber immer weniger von seinem Vater. Wenn Susan ihn jetzt aus der Umgebung herausriss, würde das einen neuen gravierenden Einschnitt in Jimmys Leben bedeuten, und das konnte und wollte sie ihrem Sohn nicht zumuten.
Als Jimmy Stunden später nach Hause kam, wunderte er sich, dass Susan noch nicht mit den Vorbereitungen für das Abendessen angefangen hatte. Auch dass Susan den ganzen Abend über recht wortkarg, beinahe schon geistesabwesend war, war für Jimmy ungewohnt. Sonst fragte seine Mutter ihn immer bis ins kleinste Detail über die Schule aus, was er gelernt und welche Noten er erhalten hatte. Das war Jimmy eigentlich immer lästig gewesen, heute jedoch schien sie nicht einmal daran interessiert zu sein, dass er vor dem Schlafengehen noch seine Hausaufgaben erledigte. Nun, sein Freund Lewis hatte ihm gesagt, dass Frauen manchmal recht seltsam waren.
»Das hängt mit was zusammen, was man Hormone nennt«, hatte Lewis ihm flüsternd erzählt. »Wenn diese verrücktspielen, fangen die Frauen an zu spinnen.«
Jimmy bewunderte seinen Freund wegen seines Wissens, was weibliche Wesen anging. Lewis hatte sogar schon einmal ein Mädchen geküsst, war aber noch nie verliebt gewesen.
»Der Kuss war feucht und glitschig«, sagte Lewis, als Jimmy danach fragte. »Das Mädchen war älter und hatte furchtbar viele Pickel im Gesicht. Danach lief sie mir dauernd nach und wollte, dass wir zusammen auf den Klippen spazieren gehen. Ich war froh, als ihre Eltern nach Fowey zogen und sie Polperro verließ.«
Jimmy fragte sich, wie es wohl wäre, wenn er sich verliebte, und er hoffte, das würde noch ein Weilchen dauern, denn die Mädchen, mit denen er zusammentraf, kicherten nur die ganze Zeit und redeten dummes Zeug, allen voran Lewis’ Schwestern, mit denen er sich ebenso wenig beschäftigen wollte wie sein Freund.
»Lass uns angeln gehen«, sagte Jimmy und schlug Lewis auf die Schulter. »Wer braucht schon Mädchen?«
Die nächsten Tage fühlte sich Susan, als würde sie auf einem randvoll gefüllten Pulverfass sitzen, an dem jederzeit jemand die Lunte entzünden konnte. Sie traute sich kaum noch aus dem Haus, um Stephen nicht zu begegnen, wusste aber zugleich, dass er keine Hemmungen haben würde, sie erneut in ihrem Cottage aufzusuchen, wenn er ihr etwas zu sagen hatte. Rosalind schrieb zweimal und fragte, ob sie sich in einem Tearoom in Looe treffen könnten, Susan beantwortete ihre Briefe jedoch nicht. Sie befürchtete, Rosalind gegenüber ihre Maske nicht aufrechterhalten zu können.
Anfang Oktober zogen die ersten Herbststürme über das Land. An manchen Tagen war der Wind so heftig, dass die Fischer nicht hinausfahren konnten, ohne ihr Leben zu riskieren. Von Stephen Polkinghorn hatte
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