Das Lied der Luege
jemals irgendetwas geben sollte, das ich für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.« Caja Nankerris eilte ins Haus und kehrte mit der Bibel zurück. Sie legte eine Hand auf den Buchdeckel und hob die andere Hand zum Schwur. »Ich schwöre bei Gott und bei allem, was mir heilig und lieb ist – ich werde alles für Sie tun, und wenn es mein eigenes Leben kosten sollte.«
Seitdem – die Sache lag etwa zwei Jahre zurück – hatte Lavinia nicht mehr an Cajas beinahe schon fanatischen Schwur gedacht, zumal weder Ennis Nankerris oder ein anderer aus der Familie jemals wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Lavinia erfuhr nie, ob Edward etwas von ihrem Besuch in Bodmin erfuhr, ihr gegenüber äußerte er sich niemals darüber. Auch nicht, als er mitbekam, dass Ennis Nankerris wieder auf der Farm seiner Eltern war und bei einem Fischer in Polperro in die Lehre ging. Edward war aber auch nur selten in Sumerhays. Seine Geschäfte machten eine dauerhafte Anwesenheit in London erforderlich, und der Landbesitz wurde von den Windles gut verwaltet.
Als Susan Hexton in Lavinias Leben getreten war, erinnerte diese sich wieder an den Schwur der Hebamme. Jetzt würde die Frau Gelegenheit haben, ihre Dankbarkeit unter Beweis zu stellen. Lavinia zweifelte keinen Moment, in Caja eine verschwiegene Helferin zu finden.
4. Kapitel
S usan konnte sich an der vorbeirauschenden Landschaft nicht sattsehen. Obwohl sie seit vier Uhr am Morgen auf den Beinen war und jetzt am späten Nachmittag die Dämmerung hereinbrach, fühlte sie sich kein bisschen müde. Als sie an der Victoria Station in den Zug nach Cornwall gestiegen war, hatte es wie aus Kübeln gegossen, und ein scharfer, eisiger Wind drang durch ihren Mantel und jagte Susan eine Gänsehaut über den Rücken. Je weiter sie jedoch nach Westen fuhren, desto schöner und strahlender zeigte sich der Tag. Nachdem der Zug die tristen und heruntergekommenen Vororte Londons verlassen hatte, ratterte er durch die lieblichen Landschaften von Hampshire, Wiltshire, Somerset, am östlichen Rand des Dartmoors durch Devon und schließlich bei Plymouth über die imposante stählerne, von Isambard Kingdom Brunel im letzten Jahrhundert erbaute
Royal Albert Bridge
hinein nach Cornwall. Obwohl es Ende November war, gab es hier fast keine Anzeichen des kommenden Winters. Nur wenige Bäume trugen verfärbtes Laub oder hatten ihr Blätterkleid ganz abgeworfen. Voller Staunen bemerkte Susan mannshohe Farngewächse und sogar Palmen, die hier so selbstverständlich den Wegrand säumten, als befänden sie sich nicht auf der britischen Insel, sondern an der Küste des Mittelmeers. Hier und da zeigten dunkelblaue bis violette Hortensienbüsche ihre letzten Blüten, und die Luft war so mild, dass Susan ihren Mantel ablegte. Unmittelbar nach der Überquerung des Flusses Tamar, der natürlichen Grenze zwischen den Grafschaften Devon und Cornwall, hatte der Zug einen dreißigminütigen Aufenthalt in der Stadt Saltash, bevor er nach Liskeard, der Endstation für Susan, weiterfuhr. Susan nutzte die Zeit, auszusteigen und sich auf dem Bahnsteig einen Tee zu kaufen. Mit einem Lächeln bemerkte sie den Eisstand, der sich trotz der Jahreszeit großer Beliebtheit erfreute. Sie selbst verkniff sich jedoch die süße und kalte Leckerei, setzte sich mit der Tasse Tee auf eine Bank und reckte ihr Gesicht in die Sonne. Die letzte Woche war eine der aufregendsten in ihrem Leben gewesen. Hatte Susan auf dem Weg in das Haus in Belgravia noch an ihrem Plan gezweifelt, ja, eigentlich befürchtet, dass Lady Lavinia sie hinauswerfen würde, so hatte sich für sie nun alles verändert. Die von Lady Lavinia genannte Pension war klein, aber sauber und ordentlich, und die freundliche Wirtin hatte sie herzlich aufgenommen, als Susan erklärte, sie wäre seit kurzem verwitwet und würde demnächst zu Verwandten aufs Land reisen. Tags darauf überbrachte ein Botenjunge einen langen Brief von Lady Lavinia, in dem sie Susan neben der Summe von zwanzig Pfund – für ihre Ausgaben in den kommenden Tagen – ausführliche Anweisungen erteilte und die Bitte äußerte, den Brief nach dem Lesen unverzüglich zu vernichten. Von dem Geld hatte Susan sich neu eingekleidet – vorrangig dunkle und schlichte Kleider, die ihrem Witwenstand entsprachen. Außerdem hatte sie sich Bücher über Cornwall besorgt und diese mit steigendem Interesse gelesen. Vorher hatte sie über die Grafschaft nicht mehr gewusst, als dass sie die westlichste
Weitere Kostenlose Bücher