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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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zwei oder drei Mal in der Woche zu Gesicht bekamen, stammte aus dem letzten Jahrhundert. Sosehr Lavinia die verstorbene große Königin Victoria nach wie vor schätzte – ihre Ansichten über Kindererziehung waren antiquiert, auch wenn sie neun Kindern das Leben geschenkt hatte. Was dabei herauskam, wenn man seine Kinder von strengen, fremden Menschen erziehen ließ, sah man an König Edward. Obwohl Lavinia ihrem König selbstverständlich loyal ergeben war, widerstrebte ihr dessen Lebensweise. Der König war träge, lernfaul, und seine zahlreichen Affären bewiesen, wie sehr er unter dem Liebesentzug in seiner Kindheit und Jugend gelitten haben musste.
    Gedankenverloren strich Lavinia über die verblasste gelbliche Tapete. Sie würde den Raum so bald wie möglich renovieren lassen. Auch neue Vorhänge und Teppiche waren vonnöten, am besten in einem zarten Blau. Ebenso würde sie die alte Wiege, in der schon Generationen von Callingtons gelegen hatten, vom Dachboden holen und restaurieren lassen. Noch diese Woche wollte sie nach Looe gehen, dort Stoff und Wolle kaufen, um sich damit an den langen Abenden die Zeit zu vertreiben. Sie wollte für ihr Kind nähen und stricken, obwohl die meisten ihrer Nachbarinnen dafür wenig Verständnis zeigen würden. In ihren Kreisen fertigte man Handarbeiten für Basare an, damit sie dort für wohltätige Zwecke verkauft wurden, zum Beispiel für die Kirche oder für ein Armen- oder Waisenhaus. Sie jedoch wollte ihr Kind in Kleidern sehen, die von ihrer Hand gefertigt waren, und nicht ausschließlich die alten, steifen Kleider der Familie verwenden.
    In den letzten Tagen hatte Lavinia verdrängt, dass in ihrem Körper kein neues Leben heranwuchs. Seit sie mit Susan den Plan geschmiedet hatte, fühlte sie sich tatsächlich schwanger. Erst gestern Morgen hatte sie sich plötzlich übergeben müssen. Edward, dem das nicht verborgen geblieben war, hatte laut gelacht.
    »Ich habe gehört, Frauen, die sich regelmäßig übergeben, gebären die schönsten Söhne.«
    Lavinia hatte sein Schmunzeln etwas gezwungen erwidert. Seit Tagen aß sie doppelte Portionen, obwohl sie sich zu jedem Bissen zwingen musste. Edward meinte jedoch, sie müsse für zwei essen, und auch ihr selbst könne es nicht schaden, etwas rundlicher zu werden, denn Schwangere nahmen nicht nur in der Leibesmitte, sondern auch im Gesicht zu.
    Mrs. Windle rief, ihr Bad wäre bereit, und Lavinia verließ das Zimmer, in dem bald ihr Kind schlafen würde. Bevor sie sich entkleidete, bat sie Mrs. Windle, der jungen Nankerris zu sagen, sie möge ihrer Mutter bitte ausrichten, sie, Lavinia, wolle sie am nächsten Vormittag sprechen. Während Lavinia in das Wasser tauchte und die Wärme ihre Glieder entspannte, erinnerte sie sich an den Tag, als der junge Nankerris, Ennis war sein Name, beim Schmuggeln erwischt worden war. Sie und Edward weilten auf Sumerhays und kehrten gerade von einem Besuch zurück, als ihr Wagen auf der Straße nach Pelynt aufgehalten wurde. Rund zwei Dutzend Männer führten einen jungen Kerl, kaum den Kinderschuhen entwachsen, mit einem Strick um den Hals in ihrer Mitte. Edward bat den Kutscher zu halten, stieg aus und fragte laut: »Was geht hier vor sich?«
    Die Männer erkannten den Viscount Tredary, denn die meisten arbeiteten auf seinem Land und in den Dörfern, die zu Sumerhays gehörten. Ein größerer Kerl, wohl der Anführer, trat vor und erklärte: »Wir haben Ennis Nankerris beim Schmuggeln erwischt und bringen ihn jetzt nach Bodmin vor den Richter.«
    »Schmuggeln?« Edward lachte und sah einem Mann nach dem anderen ins Gesicht. »Ich glaube, unter euch ist keiner, der sich dieses Vergehens nicht auch schon einmal schuldig gemacht hat. Warum wollt ihr also einen Jungen, fast noch ein Kind, zum Sündenbock stempeln?«
    »Bei allem Respekt, Sir, aber uns sitzt die Behörde im Nacken. Tag und Nacht patrouillieren sie durch Polperro und durchsuchen unsere Häuser und Keller.« Der Anführer reckte sein Kinn vor und fuhr stolz fort: »Wir und unsere Familien sind unschuldig, aber Ennis haben wir erwischt, als er eine Ladung französischen Cognac an Land bringen wollte.«
    »Aha.« Edward wusste, dass der Schmuggel an diesem Küstenabschnitt blühte. Ein guter Segler konnte in einer Nacht an die Küste Frankreichs und zurück gelangen, zugleich zweifelte er an der Unschuld der anderen. Das Leben in dieser Gegend war hart, wenn man nicht zur privilegierten Oberschicht gehörte, dennoch musste der

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