Das Lied der Luege
Erröten der Frau erkannte Lavinia, dass genau das der Fall war. »Ich habe nicht vor, Empfänge oder gar große Feste zu geben«, fuhr Lavinia fort.
»Ich verstehe, Mylady, bis Weihnachten ist es jedoch nicht mehr fern, und da …«
Weihnachten lag Lavinia im Magen. Sie wusste, es war unmöglich, in Sumerhays zu residieren, ohne zumindest an den hohen Festtagen die Nachbarn zu einem Umtrunk einzuladen. Ebenso wie sie selbst zahlreiche Einladungen erhalten würde. Das Argument, sie müsse sich wegen der Umstände, in denen sie sich befand, schonen, würde die eine oder andere Dame nicht gelten lassen. Und in fünf Wochen – wenn die Weihnachtstage kamen – musste sie dafür sorgen, dass die Frauen, die alle schon selbst Kinder geboren hatten, nicht merkten, dass ihr eigener Körper nicht dazu in der Lage war, seine Pflicht zu erfüllen.
»Lassen Sie mir bitte ein Bad ein, Mrs. Windle«, bat Lavinia, um sich abzulenken. »So schön und nützlich die Eisenbahn auch ist, der Ruß zieht durch alle Ritzen, und ich fühle mich, als hätte ich höchstpersönlich Kohlen geschaufelt.«
»Ich kümmere mich sofort darum, dann bereite ich das Abendessen zu, Mylady.« Dienstbeflissen knickste die Haushälterin.
In ihrem Zimmer fand Lavinia ein wärmendes Feuer vor, und die Bettwäsche duftete nach Lavendel. Lavinia streifte ihre Handschuhe ab, löste die Hutnadeln, warf den Hut achtlos auf einen Stuhl und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Der roséfarbene Baldachin über ihr war mit beigen Stickereien verziert und harmonierte mit den Vorhängen und den Teppichen. Es war, als wäre mit ihrer Ankunft in Sumerhays eine große Last von ihren Schultern genommen worden. Sie liebte das Haus und den weitläufigen Park, in dem es fast das ganze Jahr über üppig blühte und grünte. Da ihr Schlafzimmer im ersten Stock lag, konnte sie durch die breite, nach Süden ausgerichtete Fensterfront bei klarem Wetter das Fischerdorf Polperro und das Meer sehen. Schon bei ihrem ersten Besuch vor rund sechs Jahren hatte Lavinia sich in Sumerhays mehr verliebt als in Edward. Sie hatte Edward bei einem Souper im Haus von Freunden ihrer Eltern in London kennengelernt. Der ältere Viscount hatte ihr sofort seine volle Aufmerksamkeit geschenkt und keinen Hehl aus seiner Sympathie ihr gegenüber gemacht. Bereits zwei Wochen später war an Lavinia und ihre Eltern eine Einladung erfolgt, das Wochenende auf dem Land zu verbringen. Hatte Lavinia bis dahin gezögert, Edwards Avancen größere Aufmerksamkeit zu schenken oder diese sogar zu erwidern, obwohl ihre Familie mit dieser Verbindung all ihrer finanziellen Sorgen entledigt wäre, so hatte der Anblick von Sumerhays ihre Meinung schlagartig geändert. Schon nach wenigen Minuten hatte sie gewusst, dass das alte, aus hellen Quadersteinen und mit Holzbalken durchzogene Haus ihr neues Zuhause werden
musste
. Im unteren Stockwerk waren im Laufe der Jahrzehnte Wände entfernt worden, damit helle und luftige Räume entstanden, die für die zahlreichen Festivitäten auf Sumerhays genügend Platz boten. Die oberen Zimmer, zu denen ihr Schlafzimmer gehörte, hatten mit der niedrigen Balkendecke und den holzvertäfelten Wänden den Charme des siebzehnten Jahrhunderts beibehalten. Lediglich die Fensterfront war erweitert worden, damit mehr Licht in den Raum drang. Direkt daneben hatte Edward, als er in jungen Jahren Herr von Sumerhays wurde, ein Badezimmer mit fließendem Wasser eingebaut, und im letzten Jahr war Sumerhays an das elektrische Stromnetz angeschlossen worden. Damit war es das einzige Haus in der ganzen Umgebung, das über elektrisches Licht verfügte, und die Arbeiten hatten Edward ein kleines Vermögen gekostet.
Während Lavinia Mrs. Windle im Nebenraum hantieren hörte, wie sie das Bad vorbereitete, öffnete sie die Tür auf der anderen Seite des Zimmers. Dahinter lag ein Raum, in Größe und Form ähnlich dem ihren. Er war spärlich möbliert, in der Regel schlief ihre Zofe hier, wenn diese sie aus London nach Cornwall begleitete. Als Lavinia den Raum zum ersten Mal gesehen hatte, wusste sie, dass das einmal das Kinderzimmer werden sollte. Entgegen der in ihren Kreisen immer noch herrschenden Auffassung, Kinder sollte man zwar sehen, aber nicht hören, also wurden sie von Ammen und Kindermädchen erzogen, war Lavinia der Meinung, dass nichts für ein Kind besser war als bei seiner Mutter zu sein. Die Vorstellung, dass Kinder einen eigenen Trakt bewohnten und ihre Eltern höchstens
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