Das Lied der Maori
Dauer würde sie dringend ein paar neue Kleider brauchen. Aber da war sie inzwischen ziemlich optimistisch. Drei Dollar in der Woche war nicht viel, aber die Nebeneinnahmen durch die »Whiskys« brachten fast noch mal das Doppelte ein.
Der Samstagabend war wirklich anstrengend. Der Pub war proppenvoll; anscheinend hatte sich jeder Bergarbeiter und auch so mancher Geschäftsmann oder Arbeiter aus der Stadt hier eingefunden.
»Noch viel mehr als sonst!«, freute sich Madame Clarisse. »Da kann man mal sehen, diese Raubauzen! Stehen mehr auf Musik als auf Hundekämpfe.«
Elaine erfuhr, dass der andere Bergarbeiter-Pub in der Stadt sich auf Unterhaltung der Gäste durch Wetten spezialisiert hatte. Im Hof fanden an jedem Wochenende Hunde- und Hahnenkämpfe statt, Elaine drehte sich schon bei dem Gedanken daran der Magen um. Bei Madame Clarisse trieben sich zwar auch ein paar Buchmacher herum, aber hier setzte man eher auf Pferde- und Hunderennen im weit entfernten Dunedin, Wellington oder gar in England.
Samstags tranken, sangen und tanzten die Männer bis zur Sperrstunde, falls sie nicht schon vorher umfielen. Es kam jetzt auch öfter vor, dass einer von ihnen sich Elaine in eindeutiger Absicht näherte, doch sie wehrte jede Zudringlichkeit energisch ab, und die Männer akzeptierten es ohne Murren. Ob Madame Clarisse’ strafender Blick dafür verantwortlich war oder der zwischen Panik und mörderischer Wut schwankende Ausdruck in Elaines eigenen Augen, wusste sie nicht.
Dafür schienen die Zecher das Mädchen am Klavier bald für eine Art Beichtstuhl zu halten. Wann immer Elaine eine Pause machte, fand sich ein Jüngling neben ihr ein, der unbedingt seine meist traurige Lebensgeschichte loswerden wollte. Je weiter der Abend voranschritt, desto offenherziger wurden diese Bekenntnisse, und Elaine schwankte zwischen Verachtung und Mitgefühl, wenn ihr der schmächtige Charlie aus Blackpool schluchzend erzählte, er wolle seine Frau gar nicht schlagen, aber es käme immer so über ihn, während Jimmy aus Wales, ein Bär von einem Mann, mit stockender Stimme verriet, dass er sich in Wahrheit im Dunkeln fürchte und jeden Tag in der Mine tausend Tode starb.
»Und der Lärm, Miss Lainie, dieser Lärm ... die Schächte werfen die Töne zurück, wissen Sie. Jeden Schlag der Pickel hört man ein Dutzend Mal. Ich denke manchmal, mein Trommelfell platzt. Spielen Sie doch noch einmal
Sally Gardens
, Miss Lainie, ich will’s mir genau merken, vielleicht hör ich es dann, wenn ich unten bin.«
Am Ende des Abends dröhnte auch Elaine der Kopf, und als endlich alle Männer gegangen waren, trank sie mit Madame Clarisse und den Mädchen einen echten Whisky.
»Aber nur einen, Mädels, ich will nicht, dass ihr morgen in der Kirche nach Schnaps stinkt!«
Elaine musste fast lachen, doch Madame Clarisse führte ihre Schäfchen tatsächlich zur Sonntagsmesse. Die Huren tappten ihr mit gesenkten Köpfen nach wie eine Kükenschar der Henne. Dem Reverend, einem Methodisten, schien das gar nicht so recht, doch er konnte die reuigen Sünderinnen schwerlich der Kirche verweisen. Elaine war immerhin froh, ihr hochgeschlossenes Reitkleid tragen zu können – und wagte es darin auch, Mrs. Tanner wieder in die Augen zu sehen.
In den nächsten Wochen gewöhnte sie sich in Greymouth ein, und sie musste Charlene Recht geben: Es war nicht das schlechteste Leben – und auch nicht die schlechteste Stadt. Da sie nur abends arbeitete und das kleine Zimmer nun wirklich keine hausfrauliche Aufgabe darstellte, blieb Elaine tagsüber viel Zeit, Banshee zu satteln und ihre neue Umgebung in Augenschein zu nehmen.
Sie durchstreifte die Berge und Farnwälder und bewunderte das durch die fast täglichen Regenfälle stets üppige Grün der mitunter dschungelartigen Landschaft am Grey River. Das Meer faszinierte sie, und sie war hingerissen, als sie bei einem Ausritt auf eine Seehundkolonie stieß. Unfassbar, dass die Coaster diese Tiere noch vor wenigen Jahrzehnten gnadenlos abgeschlachtet und ihre Felle verkauft hatten! Inzwischen konzentrierte man sich im Raum Westport und Greymouth mehr auf Industrie und Kohleabbau; es gab sogar schon eine Eisenbahn, der Elaine an schlechten Tagen voller Sehnsucht hinterherschaute: Die Midland Line verband die Westküste mit Christchurch. Nur wenige Stunden Fahrt, und sie wäre in der Nähe von Grandma Gwyn.
Doch solche Grübeleien erlaubte Elaine sich selten. Es tat zu weh, darüber nachzudenken, was ihre
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