Das Lied der Maori
halb so viele Fragen, wie Elaine befürchtet hatte. Allerdings riet sie ihr dringend ab, sich noch mal um ein Zimmer bei Mrs. Tanner zu bemühen.
»Die Alte ist die Klatschbase der Stadt. Und tugendhafter als die Madonna persönlich. Wenn sie hört, wie du dein Geld verdienst, schmeißt sie dich wahrscheinlich gleich wieder raus. Und falls doch nicht, redet bald die halbe Westküste über die höhere Tochter auf der schiefen Bahn. Denn das biste doch, Lainie, oder? Ich will gar nicht wissen, wovor du wegläufst, aber ich denk, Mrs. Tanner sollte es auch nicht wissen!«
»Aber ... aber wenn ich hier einziehe ...«, Elaine versuchte, nicht mit vollem Mund zu reden, aber sie war einfach zu hungrig, »... dann denken doch alle, dass ich ...«
Madame Clarisse gab ihr noch ein Stück Fleisch. »Kindchen, das denken die sowieso. Du kannst hier nur eins haben: einen Job oder einen guten Ruf. Zumindest bei den Ladys. Die Jungs sind was anderes, die werden alle mal versuchen, bei dir zu landen, aber wenn du sie abweist, ist es auch gut. Und wenn nicht, kriegen sie’s mit mir zu tun, da mach dir mal keine Sorgen. Nur mit dem Verständnis einer Mrs. Tanner darfst du nicht rechnen. Es geht einfach über deren Begriffsvermögen, dass man jeden Abend dreißig Kerle zu Gesicht kriegt und trotzdem mit keinem ins Bett steigt. Die halten sogar mich noch für verführerisch!« Madame Clarisse lachte wieder. »Diese ehrbaren Frauen haben ein seltsames Verständnis von Tugend. Also lass dir gleich mal ein dickes Fell wachsen. Außerdem hast du es hier bestimmt netter als bei dem alten Drachen. Ich koche garantiert besser, und das Essen ist umsonst. Und dann haben wir ein eigenes Badehaus. Na, überzeugt?«
Dem Badehaus hätte Elaine an diesem Tag unter keinen Umständen widerstehen können. Kaum dass sie ihre Mahlzeit beendet hatte, lag sie auch schon in einer Wanne mit wundervoll heißem Wasser – und lernte das erste Mädchen kennen, das bei Madame Clarisse arbeitete.
Charlene, neunzehn Jahre alt, drall und schwarzhaarig, half ihr beim Haarewaschen und erzählte freimütig.
»Ich kam mit meiner Familie nach Wellington, aber noch als Baby, kann mich nicht mehr dran erinnern. Ich weiß nur noch, dass wir in den miesesten Buden lebten und dass mein Daddy uns jeden Tag verprügelte, nachdem er sein Bestes getan hatte, meiner Mom das nächste Baby aufzuladen. Mit vierzehn hatte ich genug und brannte mit dem erstbesten Jungen durch. Der reinste Märchenprinz, dachte ich damals. Goldsuchen wollte er, und am Ende wären wir reich ... Das hat er dann erst mal auf der Nordinsel versucht, danach das letzte Geld für die Überfahrt zusammengekratzt, als es in Otago losging mit den Goldfunden. Aber mit dem Arbeiten hatte er es nicht, und Glück hatte er auch nicht. Eigentlich hatte er nur mich ... und da hat er dann auch was draus gemacht. Er vermietete mich an die Kerle in den Goldgräberlagern ... weiß Gott kein Spaß, die haben sich das Ticket oft genug geteilt, und dann hatte ich zwei oder drei zugleich am Hals. Und selbst hab ich nichts gesehen von dem Geld, ging alles nur in Whisky, obwohl er mir natürlich sagte, er gäbe alles für die Ausrüstung aus, um seinen Claim mal richtig zu erschließen. Als mir dann aufging, dass ich der Claim war, war ich achtzehn. Bin bei Nacht und Nebel abgehauen, und hier bin ich.«
»Aber ... aber es ist doch schon wieder das Gleiche«, wandte Elaine ein. »Nur dass du jetzt für Madame Clarisse anschaffst.«
»Süße, ich hätte auch lieber den Prince of Wales geheiratet. Aber was anderes als das hier kann ich nicht. Und so gut wie hier hab ich’s noch nie gehabt. Ein eigenes Zimmer! Wenn ich mit den Kerlen fertig bin, wechsele ich die Laken und versprüh ein bisschen Rosenöl, und dann hab ich’s nett und gemütlich. Und das Badehaus, immer Wasser zum Waschen, genug zu essen ... nö, ich bin gar nicht scharf drauf, einen zum Heiraten zu finden. Wäre sonst aber auch nicht schwer, es gibt ja kaum ledige Frauen, und die Bergarbeiter sind nicht wählerisch. Letztes Jahr haben sie Madame Clarisse drei Mädels weggeheiratet. Die kriegen sich jetzt vor Ehrbarkeit gar nicht mehr ein. Dabei wohnen sie in dreckigen Buden ohne Abtritt, und die eine hat schon das zweite Balg am Hals. Nee, nee, da geht’s mir besser. Wenn ich heirate, muss es wirklich ein Prinz sein!«
Charlene bürstete Elaines frisch gewaschenes Haar. Sie schien es nicht befremdlich zu finden, dass die Neue keinerlei Gepäck mit sich
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