Das Lied der Maori
Eltern und Verwandten jetzt wohl von ihr dachten. Schließlich hatte sie nicht einmal Gelegenheit gehabt, von Thomas’ Quälereien zu erzählen; bestimmt brächte niemand Verständnis für sie auf.
Beim Gedanken an die Tat selbst verspürte Elaine jedoch keine Reue. Eigentlich verband sie überhaupt keine Gefühle mit diesem Morgen im Stall, sondern betrachtete die Geschehnisse aus einer sonderbaren Distanz, beinahe wie eine Szene in einem Roman. Und ebenso klar wie in diesen Geschichten waren auch hier die Rollen verteilt: Es gab nur Gut oder Böse. Hätte Elaine nicht Thomas umgebracht, hätte er früher oder später sie getötet. Deshalb empfand Elaine ihre Tat als eine Art »vorbeugende Notwehr«. Sie hätte immer wieder so gehandelt.
Allerdings wunderte sie sich, warum die spektakuläre Geschichte vom Gattenmord am Pukaki River noch nicht an die Westküste gelangt war. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass solche Neuigkeiten sich schnell verbreiteten, und beinahe gefürchtet, dass man einen Steckbrief mit ihrem Namen und womöglich ihrem Bild herumschicken würde. Aber nichts davon geschah. Weder die Huren noch die ehrbaren Frauen klatschten über eine flüchtige Gattenmörderin. Elaine nahm es als glückliche Fügung. Allmählich lebte sie sich in ihrer neuen Heimat ein; sie wäre ungern erneut geflohen. Inzwischen grüßte man sie auf der Straße, die Männer sehr höflich, die Frauen eher flüchtig und unwillig. Ignorieren konnte man Elaine allerdings nicht mehr, seit sie endlich den Mut gefunden hatte, den Reverend auf das zweite, bislang verwaiste Musikinstrument in Westport anzusprechen. In seiner Kirche stand eine nagelneue Orgel, doch die Gemeinde quälte sich ohne Begleitung und in oft erschreckend schiefen Tönen durch die Kirchenlieder.
Der Reverend zierte sich insofern nicht lange, ehe er Elaines Angebot annahm. Ihm war wohl ebenfalls längst zu Ohren gekommen, dass die junge Pianistin im Pub nicht käuflich war, sondern den Männern eher aus dem Weg ging.
Elaine sah es von der Empore aus zwar nicht, doch als sie ihre erste Sonntagsmesse mit dem schwungvollen Vortrag von
Amazing Grace
eröffnete, meinte sie, Madame Clarisse’ breites Grinsen im Rücken zu spüren.
3
Während Kura mit dem Opernensemble nach Australien reiste und auch dort Erfolge feierte, teilten William und Heather immer ungenierter das Bett miteinander. Niemand schien sich dafür zu interessieren, was die beiden des Nachts trieben, zumal es William zumindest in den ersten Wochen vom Barschrank fernhielt. Er war ausgeglichener, wie Gwyneira aufatmend bemerkte, jedoch nicht mit seinem Liebesleben in Verbindung brachte, und brach seltener einen Streit mit den Arbeitern oder den Maoris vom Zaun. Mitunter bemühte er sich sogar, sich Arbeiten zeigen zu lassen, statt nur zu befehlen – James führte dies auf die Blamage beim Schaftrieb mit Richland zurück –, doch er bewies wenig Geschick. Deshalb beschäftigte James ihn mit Routinearbeiten, die er zu wichtigen Angelegenheiten aufbauschte, und freute sich am wiedergewonnenen Frieden. Manche Dinge erschienen ihm allerdings merkwürdig – so etwa, dass an manchen Abenden der Flügel im Salon wieder erklang. Heather Witherspoon erbot sich, für die Familie zu spielen, obwohl nun wirklich niemand das Bedürfnis danach hatte – außer William. Der ermutigte sie sogar und behauptete, sich Kura durch die Musik näher zu fühlen. Er habe ihr Gesicht und ihre Gestalt dann wieder vor Augen, erklärte er, worauf Heathers Züge sich missbilligend verzogen. Auf jeden Fall nahmen die beiden ihre gemeinsamen Abende im Salon wieder auf, und Williams Whiskykonsum stieg erneut.
»Können wir diese Witherspoon jetzt nicht bald rauswerfen?«, stöhnte James, während er Gwyneira ritterlich die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer aufhielt. Unten spielte Heather seit Stunden Schubert Lieder. »Seit Kura weg ist, wird sie doch nun wirklich nicht mehr gebraucht.«
»Und wer unterrichtet dann Jack und die Maori-Kinder?«, fragte Gwyn. »Ich weiß ja, dass sie dabei nicht gerade Höchstleistungen vollbringt, aber wenn wir sie wegschicken, muss ich einen Ersatz suchen. Also wieder in England inserieren, warten, bis Bewerbungen eintreffen – und mich letztlich erneut auf gut Glück entscheiden.«
»Ein Entscheidungskriterium hätten wir schon mal«, sagte James grinsend. »Weder Jack noch Gloria legen Wert auf Klavierkenntnisse. Aber mal im Ernst, Gwyn, mir gefällt es nicht, dass William
Weitere Kostenlose Bücher