Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
gedient.«
»Was hältst du von der Qualität des Gemäldes. Ich meine die Gesichter?«, fragte Jessica Nan, da sie wusste, dass sie sich genauso sehr für Malerei interessierte wie für ihre Keramik.
»Ich halte sie für ausgezeichnet. Nicht hübsch, natürlich, aber die Pinselstriche, der Ausdruck, der Blick in den Augen, das ist sehr intensiv, sehr realistisch«, fand Nan. »Wer immer das gemacht hat, hat das Talent zum Porträtmalen.«
»Das ist interessant«, fuhr Jessica fort, während sie die Zeichnung hervorholte, die sie von Sarah angefertigt hatte, »es scheint, als könne niemand anderes als ich diese Gesichter gemalt haben, und doch – seht euch die Zeichnung von Sarah an und dann die Gesichter. Das ist ein ganz anderer Stil.«
Marcus nahm Sarahs Zeichnung und heftete sie mit ein paar Reißzwecken, die er auf Jessicas Arbeitstisch gefunden hatte, über dem vierten, unvollendeten Gesicht auf das Gemälde. »Du hast Recht«, stimmte er zu, nachdem er die unterschiedliche Ausführung und Auffassung der Konturen der Gesichter miteinander verglichen hatte. Selbst einem Amateur wie ihm musste auffallen, dass die Gesichter und die Zeichnung von Sarah offenbar von zwei verschiedenen Künstlern stammen mussten.
»Meine Arbeiten, die Landschaftsbilder in Aquarell oder Acryl, unterscheiden sich stark von diesen Gesichtern. Um diesen Gesichtsausdruck so gut einzufangen, braucht man ein besonderes Talent. Wenn wir nur wüssten, wer sie sind«, fuhr Jessica wehmütig fort. Gelegentlich nagte stark die Neugier an ihr, zu erfahren, wer diese Menschen waren und welche Rolle sie in Sarah O'Rileys Leben gespielt hatten.
»Ich bekomme bestimmt bald ein paar Antworten auf meine E-Mails. Ein befreundeter Historiker in Sydney hat mir geschrieben, dass er mir eine Akte über die Namen zusammenstellt, die ich ihm gegeben habe.«
Plötzlich durchlief Jessica ein Schauer. »Glaubt ihr, dass diese Männer Sarah etwas angetan haben?«
Marcus zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Aber es könnte auch sein«, zwinkerte er ihr zu, um ihre trübe Stimmung aufzuheitern, »dass sie ihnen etwas angetan hat.«
Jessica behielt das letzte Wort. »Wenn ja, dann bin ich sicher, dass sie es verdient haben.«
17
ue hörte aufmerksam zu, als Simon sie in seinem Büro in der Klinik über das neueste Kapitel des geistigen Verfalls seiner Frau informierte. Es fiel ihr schwer, nicht offen ihrer Freude Ausdruck zu verleihen, als er ihr erzählte, wie Jessica ihm von ihrer Begegnung mit dem Geist von Sarah O'Riley berichtet hatte. Geister zu sehen, Stimmen zu hören, Gesichter zu malen, ohne dass man sich daran erinnern konnte – für sie schienen das alles Symptome eines verwirrten Geistes zu sein. Sie spürte, dass Simon mit seiner Geduld am Ende war. Er hatte genug und brauchte etwas Stabilität in seinem Leben. Dafür würde sie schon sorgen, wenn die Zeit dafür reif war.
»Ich scheine nicht mehr zu ihr durchzudringen«, beklagte er sich in bitterem Tonfall. »Sie hat eine Mauer zwischen uns errichtet, es ist schlimmer als damals, als wir Damian verloren haben. Damals schien es, als ob ihr Geist an einem fernen Ort weilte und nicht zurückkommen wollte, aber jetzt ist es anders.«
Er hielt inne, um nachzudenken, wie er sich ausdrücken sollte. »Sie ist entschlossen, dieses Rätsel – wie sie es nennt – zu lösen, und nichts, was ich sage, zählt irgendwie.«
»Ja, nun, sie macht eine schwierige Zeit durch, und Sie ebenso, Simon.« Ihre Stimme und der Ausdruck in Sues Augen drückten Sympathie aus. Es war ja so einfach, Simon von ihrer Ernsthaftigkeit zu überzeugen! »Es ist offensichtlich, dass Sie alles tun, was sie können, aber manchmal, wenn jemand geistig nicht mehr zurechnungsfähig ist, kann ein Ehemann auch mit den besten Absichten der Welt nichts mehr ausrichten.«
Mit einem Kopfnicken stimmte er ihr zu. »Marcus kommt heute Vormittag. Er sagte etwas davon, mit Jessica etwas anderes zu versuchen. Ich weiß nicht recht. So langsam verliere ich das Vertrauen in das, was er tut, denn ich sehe bei ihr keine Veränderung zum Besseren.«
»Warten wir doch einfach erst einmal ab, was er vorschlägt«, riet sie. Dann gab sie ihm listig einen Gedanken ein, da sie seine langfristigen Pläne kannte. »Ihnen ist doch bewusst, dass Sie, sollte Jessica wirklich für unzurechnungsfähig erklärt oder zur Behandlung auf unbestimmte Zeit in ein Sanatorium eingewiesen werden, ihre Angelegenheiten regeln
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