Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
wenig von der Flüssigkeit rann ihr aus dem Mundwinkel über die Wange und auf den Hals. Sie kicherte, als das Rinnsal sie kitzelte. Langsam begann der Alkohol seine Wirkung zu entfalten, und mit einem Seufzer entspannte sie sich. Schließlich war die Flasche leer, doch sie hatte das Gefühl, sie brauchte noch mehr, und fand tatsächlich eine Flasche Cognac im Küchenschrank. Gierig setzte sie sie an die Lippen und schluckte, als ob sie aus der Wüste gekommen wäre.
Bis sie schließlich jeden Tropfen Alkohol in der Wohnung gefunden und vernichtet hatte, war sie sinnlos betrunken.
Sarah stand in einem Winkel des Wintergartens und bewunderte, wie gut Jessica ihre Emotionen unter Kontrolle hatte. Ihre Gefasstheit war bemerkenswert, und auf gewisse Weise erinnerte sie sie an ihre frühere Arbeitgeberin, Cynthia Stewart. Beide hatten Klasse und eine gewisse Eleganz. Ohne Scham hatte sie Jessicas Unterhaltung mit Simon belauscht und war zornig über dessen jämmerliche, ungehörige Antworten. Der Mann hatte sich nicht nur als Schwächling erwiesen, er war auch noch dumm. Er hatte seine Frau für jemanden verlassen, die kaum mehr war als eine billige Intrigantin, und sie ging davon aus, dass er noch den Tag verfluchen würde, an dem er sich mit ihr eingelassen hatte. Dass er Jessicas Vermögen wollte, das offenbar recht groß war, ärgerte Sarah, und sie betete darum, dass er sein Ziel nicht erreichte. Soweit sie das beurteilen konnte, konnte Jessica froh sein, Dr. Simon Pearce und alles, wofür er stand, los zu sein. Das hatte sie ohne zu zögern entschieden.
Dennoch empfand sie Mitleid für Jessica in ihrer schwierigen Lage. Es war nicht leicht, eine Ehe zu beenden, und sie spürte, dass es Jessica viele Stunden herzzerreißender Überlegungen gekostet haben musste, bis sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie wusste, dass ihr die Zeit über die Enttäuschung hinweghelfen würde. Und dann war da ja auch noch Marcus … Ja, Marcus, von ihrem eigenen Blut, der sehr viel für Jessica empfand und irgendwann einen guten Partner für sie abgeben würde.
Plötzlich wurde Sarah die emotionale Anspannung zu viel, daher konzentrierte sie sich auf das Bild und begutachtete, wie Jessica das vierte Gesicht eingefügt hatte. Es war ein gutes Porträt und auch gut gemalt, fand sie.
Oh, Timothy. Sie schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an ihn. So ein einfältiger junger Mann und so völlig ungeeignet für den Militärdienst. Amüsiert rief sie sich einige Dinge ins Gedächtnis, die Maude ihr über ihn erzählt hatte, wenn sie die Mahlzeiten im Hause der Stewarts zubereiteten und sauber machten.
Er war der zweitälteste Sohn in einer achtköpfigen Familie. Seine Eltern hatten Timothy aus dem Nest vertrieben, weil sie schon zu viele Mäuler füttern mussten, und ihn dazu ermuntert, der Armee beizutreten, da er bei den Streitkräften der Königin ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Nahrung erhalten würde. Aber es war ein großer Fehler gewesen, sich mit Leuten wie Waugh, Dowd und dem gerissenen McLean einzulassen. Maude hatte Sarah erzählt, dass die drei hartgesottenen Kerle Timothy gezeigt hatten, wie man das Beste aus dem Leben bei der Armee machen konnte, wie man sich vor seinen Pflichten drückte, sobald die Vorgesetzten nicht aufmerksam waren. Und Timothy, naiv und verzweifelt auf der Suche nach Freunden, weil ihn die anderen Soldaten für einen Milchbubi hielten, hatte den älteren Männern jedes Wort geglaubt.
Rückblickend konnte sie erkennen, wie leicht es gewesen sein musste, Timothy von Waughs düsteren Plänen in der Nacht, in der sie entführt wurde, zu überzeugen. Unterdrückung und die Furcht vor Vergeltung hatten es für ihn praktisch unmöglich gemacht, sich ihren Wünschen zu widersetzen. Doch damit hatte auch Timothy sein Todesurteil unterschrieben.
Wochenlang hatte sie beobachtet, wie Timothy versuchte, mit dem Leben in der Armee fertig zu werden, nachdem seine Kumpel nicht mehr da waren, um ihn vor den Schikanen anderer Schufte in der Kompanie zu schützen. Sie machten dem jungen Mann das Leben zur Hölle und freuten sich daran, ihn bloßzustellen, zu erniedrigen und zu verprügeln, bis er von allen anderen in der Kaserne isoliert war.
Eines Tages hatte er sich krank gemeldet und war in sein Bett in der Kaserne zurückgeschickt worden. Dort fanden ihn ein paar Stunden später ein paar Soldaten mausetot am Deckenbalken hängend. Auf einem Zettel an seiner Jacke stand:
An meine Mutter
Ein Leben
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