Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
feinen Linien um seine Augen, die Bartstoppeln an seinem Kiefer. Er hatte Damians Tod heil überstanden, hatte innerlich getrauert, sich dazu gezwungen, den Job zu machen, den er am besten konnte, kranke Menschen zu heilen, während sie wie ein Kartenhaus zusammengebrochen war. Sie nickte leicht und seufzte, als sie die Angemessenheit des Vergleiches erkannte. Das Trauma hatte ihre Beziehung auf den Prüfstand gestellt, es hätte sie zerstören können, aber das hatte es nicht. Sie hatte wirklich Glück. Glück, aus dem Abgrund der Depression gekrochen zu sein, die ihren Geist beinahe für immer gebrochen hätte.
Morgen war Weihnachten. Sie würde ihnen ein schönes Essen kochen, mit Kerzen, wenn sie welche finden konnte, um diese Wiederauferstehung zu feiern. Zufrieden seufzend schmiegte sie sich an seinen Rücken.
Sie stand vor dem Schlafzimmerfenster und schaute auf das schlafende, vom Mondlicht beleuchtete Paar, ihre Körper halb von einem Laken bedeckt. Scham- und leidenschaftslos hatte sie ihren Akt der Liebe beobachtet. Sie hatte die Zärtlichkeit des Mannes und das Verlangen der Frau erkannt. Der Mann sah gut aus, in gewisser Weise weich, aber er interessierte sie nicht. Die Frau allerdings schon.
Sie hatte sie im Vorgarten arbeiten sehen, die Beweglichkeit ihrer Glieder gesehen, gesehen, wie sie den Kiefer spannte, wenn sich ihr ein Unkraut widersetzte. Sie hatte ein interessantes Gesicht, auch wenn sie nicht wirklich schön war, jedenfalls nicht nach ihrem Maßstab. Auch die Augen der Frau waren interessant, ein echter Spiegel ihrer Seele, wie sie bei den Beobachtungen in den letzten Tagen festgestellt hatte. Hinter der oberflächlichen blauen Farbe lauerte tiefer Schmerz. Sie spürte die emotionale Labilität und die Bemühungen, die Gefühle zu beherrschen.
Das war gut, entschied sie. Die Frau war stark, aber eine Tragödie hatte sie geschwächt, und sie hatte die Absicht, diese Schwäche zu nutzen, um zu bekommen, was sie so dringend brauchte.
Bald. Es war nur eine Frage der Zeit.
Mit geschlossenen Augen, noch halb schlafend, tastete Jessica das Bett nach Simon ab. Sie fand nichts als Leere, öffnete die Augen und blinzelte ein paarmal, bevor sie das Blatt Papier auf seinem Kissen sah.
Musste früh zu einem Meeting. Du sahst so schön aus, ich wollte Dich nicht wecken.
Wir sehen uns heute Abend.
In Liebe, Simon
Jessica streckte sich, entspannte sich und streckte sich wieder. Sie fühlte sich so verjüngt, so lebendig. Sie rollte sich auf die Seite und betrachtete das Schlafzimmer. Der Stuhl neben dem Tisch am Fenster stand in einem merkwürdigen Winkel, über der Lehne hingen Simons Jackett und eine Krawatte. Seine Schuhe und Socken waren unter dem Stuhl. In ihr machte etwas Klick.
Immer noch den Stuhl betrachtend, stand sie auf. Auf dem Tisch lag einer von Simons Notizblöcken und ein Bleistift. Mit kräftigen, sicheren Strichen begann sie die häusliche Szene zu zeichnen.
Nach einer halben Stunde hatte sie die Bleistiftskizze vollendet. Sie stellte sie ans Fußende des Bettes, um die Komposition zu betrachten. Nicht schlecht, entschied sie lächelnd. Sie konnte es noch.
Als Simon aus dem Krankenhaus zurückkehrte, hatte Jessica die Vorarbeiten an ihrem ersten Aquarell beendet. Auf ihre große Staffelei, fast einen Meter lang und etwa sechzig Zentimeter breit, hatte sie ein großes Stück leicht raues, körniges Papier geheftet. Ihr Motiv war der Blick vom Wintergarten mit dem schmiedeeisernen Bogen am hinteren Zaun. Fast vollständig von blutroter Bougainvillea überwachsen, wölbte sich der Bogen über ein verrostetes, halb offenes Tor. Es stand auf, als ob es jeden, der vorüber kam, einladen wollte, auf die Weiden hinauszugehen. Mit einem feinen Pinsel hatte Jessica die Szene gemalt und musste nun noch die Details einfügen.
Simon fand sie im Wintergarten und blieb in der Küchentüre stehen, um zu sehen, was sie tat. Sie hatte ein altes Laken auf dem Boden ausgebreitet, da sie dazu neigte, mit der Farbe herumzuklecksen. Auch ihre Kleidung, ein loses Hemd und Jeans, waren bereits mit verschiedenen Farben bespritzt. Zufrieden lächelte er. Jessica malte! Das musste für sie ein Wendepunkt sein, da war er sicher.
Er trat hinter sie und legte ihr die Arme um die Taille. Erschrocken zuckte sie zusammen.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich dicht an ihrem Ohr. »Ich dachte, du hättest mich hereinkommen gehört.«
»Nein, habe ich nicht«, lachte sie. »Ich habe mich darauf
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