Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
persönlicher Touristenführer dienen.«
Es entstand eine kurze Pause, bevor Alison leise sagte: »Liebes, ich habe jede zweite Woche Blumen auf Damians Grab gelegt. Ich dachte, das wäre dir recht.«
Jessica schnürte sich die Kehle zu. Sie war heute so gut gewesen. Den ganzen Tag war er an diesem besonderen Platz in ihren Gedanken gewesen. »Danke.« Sie zwinkerte ein paarmal, um die Tränen zu unterdrücken. »Ich freue mich sehr darauf, euch alle zu sehen«, sagte sie etwas zu fröhlich. »Jetzt, wo ich es weiß, kann Ostern gar nicht früh genug kommen.«
»Gut, Jessica. Grüß Simon. Wir melden uns bald. Bye!«
Eine Minute lang saß Jessica ganz still, nachdem sie aufgelegt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, und hinter den Lidern sammelten sich Tränen. Oh, ihr süßer Damian! Bilder und Erinnerungen überfluteten sie. Bei seinem ersten und einzigen Weihnachten war er erst sechs Monate alt gewesen. Er hatte natürlich nicht verstanden, was vor sich ging und was die Geschenke in den bunten Papieren bedeuteten. Er hatte sich über das knisternde Papier gefreut und über das Geräusch, das es machte, mehr gelacht als über den kuscheligen Bären und das pädagogisch wertvolle Spielzeug, das ihm Freunde und Verwandte geschenkt hatten. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und sie versuchte, die Erinnerung zurückzuschieben, bevor die Depression die Oberhand gewann.
Sie sah Simon an, der auf dem Sofa eingeschlafen war, die Hände zufrieden über dem vollen Bauch gefaltet. Marcus, Nan und ihre Familie hatten ein Festmahl aufgetischt, und er hatte nichts abgelehnt. Heute Abend brauchte er kein Essen, da war sie sicher.
Es war schön gewesen, von Alison zu hören, stellte sie fest. Sie vermisste ihre Familie. Keith, Alisons Mann, konnte gelegentlich ziemlich nervig werden. Seine Leidenschaft waren Autos, und er konnte unaufhörlich über die neuesten Modelle sprechen. Doch abgesehen davon war er ein angenehmer Gesellschafter. Und ihre Nichte und ihr Neffe, nun, Lisa und Andrew waren Teenager und benahmen sich entsprechend. Aber sie hatte nun mal nur die Marcelles als Familie. Und Simon. Er hatte ein paar Cousins draußen in der Pilbarra und einen in Darwin, mehr jedoch auch nicht.
Jessica zwang sich, nicht mehr an Damian zu denken. Heute wollte sie der Melancholie nicht nachgeben, trotz eines fast übermächtigen Dranges. Stattdessen ging sie in den Wintergarten, betrachtete ihre Staffelei, nahm einen Pinsel und begann Farben zu mischen, obwohl das Licht in der Dämmerung nicht mehr ausreichte, die Strukturen und Farben genau genug zu erkennen. Innerhalb weniger Minuten war sie voll auf ihre Aufgabe konzentriert und bemerkte nicht einmal die Farbtropfen, die auf ihr Leinenkleid fielen.
Später würde ihr auffallen, dass die Malerei ihr half, die Erinnerungen hinter einer unsichtbaren Tür zu verschließen, tief in ihrem Unterbewusstsein, und dass sie die Einzige war, die einen Schlüssel zu dieser Tür hatte und damit die Kontrolle darüber, ob sie offen oder geschlossen war.
6
arcus Hunter drosselte die Maschine seines Motorrades, als die Hütte der Pearces in Sicht kam. Man nannte es das Cassell Cottage, weil es einst Victor Cassells Familie gehört hatte, die dort gelebt hatte, bis das letzte Familienmitglied die Insel vor etwa fünf Jahren verlassen hatte. Das Cottage thronte hoch auf einem Hügel über der Landschaft Kingston. Es war eine außerordentlich einsame Lage, fand Marcus, auch wenn er sich vorstellen konnte, dass die Aussicht aufs Meer von dort aus großartig sein musste.
Marcus parkte das Motorrad, eine alte Harley Davidson aus der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, an der er ständig herumreparieren und Ersatzteile organisieren musste, um sie in Gang zu halten. Doch er tat es gerne, weil sie ideal dafür war, die Insel zu erkunden und Pfade zu befahren, die für ein Auto zu schmal waren. Einen Augenblick lang sah er das Häuschen an. Ein Lächeln ließ seine Züge weicher wirken, als er bemerkte, wie sich Jessicas Arbeit an dem verwucherten Vorgarten bezahlt gemacht hatte. Nur ein kleiner Teil musste noch gejätet werden.
Er öffnete das Tor und ging auf die Vordertür zu, innerlich erbost darüber, wie sein Körper auf die bevorstehende Begegnung mit ihr reagierte. Gestern hatte er zu Hause die Gelegenheit gehabt, sie in einer familiären Umgebung zu beobachten, und was er gesehen hatte, hatte ihm gefallen. Sie war natürlich, ungeziert, aber sie war auch mit einem Mann
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