Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
schönes Beispiel für ein Porträt dar, bemerkte sie, das weit über ihre eigenen Fähigkeiten hinausging. Mit den Fingern ihrer rechten Hand strich sie sich über das Kinn, während sie sich auf das erste Gesicht konzentrierte. Hatte sie ihn schon zuvor einmal gesehen?, fragte sie sich. So ein Gesicht konnte man nicht leicht vergessen. Grausamkeit und eine animalische Verschlagenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben, über das sich vier parallel verlaufende Narben vom Wangenknochen bis fast zum Kiefer zogen. Wie hatte er sie erhalten? Dann betrachtete sie seine Kleidung. Eine Uniform, aber keine moderne Soldatenuniform. Die Farbe, Rot, und die Paspeln erinnerten sie an etwas, was sie kürzlich gesehen hatte. Sie konzentrierte sich und versuchte, sich zu erinnern …
Simon kehrte zurück und ließ zwei Pillen in ihre ausgestreckte Hand fallen. »Hier, das sollte den Schmerz lindern.« Sanft strich er ihr über das wirre Haar. »Mach dir keine Sorgen, Jess. Wir werden schon herausfinden, was los ist. Es muss eine logische Erklärung für diese Gesichter geben und warum du sie gemalt hast.«
Der herablassende Tonfall ärgerte sie, es war, als ob er mit einem störrischen Kind redete. »Habe ich sie gemalt? Ich kann mich nicht daran erinnern, und sieh sie dir doch an«, verlangte sie, »sieh sie dir genau an. Du bist vielleicht kein Kunstexperte, aber du weißt, wie ich male. So gut kann ich nicht malen, und schon gar nicht Porträts.« Sie sah ihn an, und ihre schönen Züge zeigten eine Spur von Angst. »Mein Gott, Simon, werde ich verrückt?« So, nun hatte sie es gesagt, laut und deutlich, und doch fühlte sie sich keine Spur besser, als sie ausgesprochen hatte, was ihr durch den Kopf ging, seit sie gesehen hatte, was mit ihrem Bild passiert war.
Er nahm sie bei den Schultern und ließ sie aufstehen. »Das bist du nicht«, sagte er entschieden, zog sie an sich und küsste sie auf die Stirn. »Es ist zwar merkwürdig, was hier passiert ist, und ich habe bislang noch keine Erklärung dafür, aber wir bekommen das heraus. Ich setze deine Medikamente ab, bis ich mit Nikko gesprochen habe. Es besteht immerhin die Möglichkeit, auch wenn sie nur gering ist, dass du auf das Valium mit Halluzinationen reagierst.« Doch er glaubte seinen Worten selber nicht, sondern äußerte lediglich Plattitüden, damit sie sich besser fühlte.
»Simon«, flüsterte sie und legte die Hände an seine Brust, um die Wärme eines anderen Menschen spüren zu können. »Simon, ich habe Angst.«
»Das musst du nicht, und das ist ein Befehl, hörst du? Schau, ich möchte, dass du heute nicht zu Hause bleibst. Geh Nan besuchen oder nach Burnt Pine zu einem Einkaufsbummel. Bleib einfach eine Weile nicht zu Hause. Das klingt zwar vielleicht nicht sonderlich logisch, aber es könnte helfen.«
»Ein Einkaufsbummel!« Ihre blauen Augen leuchteten. »Das ist ja sehr mutig von dir.«
Er nickte und meinte, während er in die Küche ging, um seine Aktentasche und die Jacke zu holen: »Natürlich nur, wenn es sich im Rahmen hält!«
Simon legte den Hörer auf und lehnte sich nachdenklich zurück. Nikko hatte entschieden verneint, dass das Antidepressivum bei Jessica zu ungewöhnlichem Verhalten führen konnte. Als guter Freund hatte er ihnen angeboten, von Perth herüberzufliegen, um sich mit Jessica zu beraten und zu sehen, ob er etwas für sie tun konnte. Doch Simon hatte aus Nikkos Worten herausgehört, was dieser nicht ausgesprochen hatte. Wenn er Jessicas Rückfall für schwerwiegend genug hielt, um fast achttausend Kilometer weit zu einer Konsultation zu fliegen, dann war die Sache ernst, so viel stand fest.
Er neigte sich vor, stützte den Kopf in die Hände und war zum ersten Mal seit langer Zeit ratlos, was er tun sollte …
So fand ihn Sue Levinski, als sie ins Büro kam, um ihm den Wochenbericht des Krankenhauses zu überreichen. Eine Weile blieb sie in der Tür stehen, sie wusste, dass er sie nicht bemerkte. Körpersprache konnte sie ziemlich gut lesen, und bei Simon deutete alles auf Depression hin. Seit ihrem Fehler vom Weihnachtsabend hatte sie alles getan, um ihr vorheriges kameradschaftliches Verhältnis wiederherzustellen. Und langsam kam es zurück. Zu langsam für ihren Geschmack. Sie wusste bereits, dass Simon Pearce für gewöhnlich gelassen war, nicht leicht in Panik geriet und absolut nicht zu Depressionen neigte. Der Aufsichtsrat des Krankenhauses war zutiefst beeindruckt von seiner Leistung, daher war der
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