Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
Norfolk Island, einer Strafkolonie im Südpazifik. Ich habe schreckliche Dinge gehört, die dort passieren sollen. Die Grausamkeit der Soldaten und die Bosheit der Strafgefangenen sind hier geradezu sprichwörtlich. Aber ich tröste mich damit, dass wir nur ein Jahr bleiben werden und dann nach Sydney Town zurückkehren, wo ich – das hoffe ich von ganzem Herzen – neu anfangen kann.
In tiefster Zuneigung
für immer
Sarah
12
obald Jessica am nächsten Morgen die Augen aufschlug, drängte Simon sie, aufzustehen, obwohl sie ganz offensichtlich einen Kater hatte.
Sie runzelte verwirrt die Stirn, während Simon sie an einer Hand nahm – die andere hielt sie an die schmerzende Schläfe gepresst – und sie aus dem Schlafzimmer durch das Wohnzimmer und die Küche in den schmalen Wintergarten führte. Etwas in seinem Verhalten, eine ungewöhnliche Anspannung, sagte ihr, dass sie sich ihm besser nicht widersetzte. Das Sonnenlicht blendete sie, und sie musste blinzeln, innerlich stöhnend, weil es ihre Kopfschmerzen verstärkte.
»Sieh nur, Jessica. Sieh dir dein Bild an«, forderte Simon sie auf und zog sie zur Staffelei. Er hatte sich zuvor vergewissert, dass er am Abend zuvor keine Halluzination gehabt hatte. Sie waren immer noch da: Vier Gesichter starrten ihn an, fast höhnisch. Er wartete ihre Reaktion ab, und sie enttäuschte ihn ganz und gar nicht, denn sie starrte entsetzt hin und riss die Augen auf.
Erschrocken holte Jessica tief Luft und stieß langsam den Atem wieder aus. Das Gemälde war ruiniert. Stunden und Stunden mühseliger Arbeit vernichtet. Augenblicklich kamen ihr die Tränen, die sie jedoch mit einer zornigen Geste fortwischte. Wer konnte so etwas getan haben? Und warum? Irgendjemand war ins Haus eingedrungen und hatte die Gesichter dieser vier Schurken mit kräftigen Strichen über ihre schöne Landschaft gezeichnet, über ihr bislang bestes Bild!
»Nun …?«
Jessica wandte sich um und sah Simon an. »Nun was? Oh, Simon, wer hat das getan?« Wieder heftete sich ihr Blick auf das Gemälde. »Und warum? Ich verstehe das nicht …«
Nun war es an Simon, die Stirn zu runzeln. »Jess, erinnerst du dich nicht? Als ich gestern nach Hause gekommen bin, etwa um acht Uhr abends, habe ich diese Gesichter auf dem Gemälde gesehen und dich sturzbetrunken auf dem Sofa gefunden. Kannst du dich denn nicht daran erinnern?«
Fast für eine Minute breitete sich tiefes Schweigen im Raum aus. Dann antwortete Jessica in gedämpftem Ton: »Nein …«
»Du erinnerst dich nicht daran, dass du die Cognacflasche aufgemacht hast, die ich letzte Woche gekauft habe, und sie halb ausgetrunken hast?«
Sie blinzelte ihn entgeistert an. »Nein!« Sie hasste den Geschmack und sogar den Geruch von starkem Alkohol. Das wusste Simon doch. Worauf wollte er hinaus?
Simon bedeutete ihr, sich in den Sessel gegenüber von dem Gemälde zu setzen. »Na gut, dann erzähl mir mal, was du gestern gemacht hast. Von dem Moment an, als ich ins Krankenhaus gefahren bin bis … nun ja …?«
Jessica versuchte nachzudenken. Ihr Kopf schmerzte, und sie fühlte, wie ihr Puls schneller schlug. Was geschah hier nur mit ihr? Sie verstand das alles nicht, und es war so seltsam, dass sie keine Erklärung dafür fand. Seit ihrer Ankunft in Norfolk Island waren ihr einige seltsame Dinge passiert. Es war, als ob sie unter einem Bann oder, dachte sie halb amüsiert, unter einem Fluch litt. Nichts davon – weder das merkwürdige Gefühl auf dem Friedhof noch das Gesicht im Fenster von Hunter's Glen oder jetzt das hier – ergab irgendeinen Sinn. Es sei denn, sie wurde verrückt. Da sie wusste, was als Nächstes kommen würde, versuchte sie bewusst, die schreckliche Szene mit ihrem Großvater aus ihren Gedanken zu streichen. Nein, sie war nicht verrückt, sie war krank gewesen, weil sie Damian verloren hatte und mit diesem Verlust eine Zeit lang nicht fertig geworden war. Und sie war es nicht gewesen, die diese Gesichter auf das Bild gemalt hatte, da war sie ganz sicher. Doch irgendjemand hatte es getan.
Simon sah auf die Uhr und unterdrückte ein Seufzen. Er würde zu spät zur Arbeit kommen. »Was hast du getan, nachdem ich gegangen bin?«
Sie starrte ihn einen Moment lang verständnislos an. »Ach, das Übliche. Ich habe die Betten gemacht, abgewaschen, eine Maschine Wäsche gewaschen …« Wenn nur das Klopfen in ihrem Kopf aufhören würde, damit sie wieder normal denken konnte! Cognac! Igitt! »Und dann bin ich nach Burnt Pine
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