Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
gefahren, zum Einkaufen.«
»Hast du irgendwann auch an dem Bild gearbeitet?«
»Ja, am späten Nachmittag. Ich musste nur noch ein paar Details einfügen.«
»Wie lange hast du dafür gebraucht?«
»Ich weiß nicht.« Sie legte die Stirn in Falten und musterte ihn angestrengt nachdenkend. »Ich kann mich nicht erinnern.« Sie schloss die Augen und versuchte, sich an die gestrigen Vorgänge zu erinnern. Als sie weitersprach, hatte ihre Stimme einen verträumten Tonfall. »Am Nachmittag ist es überraschend kühl geworden, im Wintergarten war es richtig kalt. Ich habe mir einen Pullover angezogen, als ich gearbeitet habe.« Sie öffnete die Augen und sah Simon an. »Aber der Pullover hat nicht geholfen, ich war richtig durchgefroren. Ja, daran erinnere ich mich. Ich habe meine Finger angesehen, die vor Kälte schon ganz weiß geworden sind, was ich recht merkwürdig fand. Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren, und diese Kälte, das machte keinen Sinn. Draußen schien die Sonne, aber im Wintergarten war es so kalt wie in einem Kühlschrank. Und dann, und …« Sie seufzte und sah ihn ernst an. »Das ist das Letzte, an das ich mich vom gestrigen Nachmittag erinnere.« Warum hatte sie den Rest vergessen? Es war, als ob ein Vorhang über ihr Gedächtnis gefallen war. Sie erinnerte sich nicht daran, zu Abend gegessen zu haben oder dass Simon nach Hause gekommen war. An nichts!
Simon sah sie fest an. »Es war gestern nicht kalt, Jess. Es müssen fast dreißig Grad gewesen sein.«
Ohne Rücksicht auf ihre Kopfschmerzen sprang sie auf und rannte ins Schlafzimmer, aus dem sie eine Minute später wiederkam. »Hier, mein Pullover. Siehst du, es ist Farbe daran. Also, ich habe gemalt, und es war kalt.« Langsam ging ihr Simons Verhör auf die Nerven. Warum glaubte er ihr nicht einfach? Das hatte er früher immer getan, besonders nachdem Damian … Er war so sanft und mitfühlend gewesen. Warum war er das jetzt nicht? Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen war, sie konnte sich an nichts erinnern, was das Bild oder den Cognac betraf.
Er betrachtete den Pullover, auf dem Spuren von grüner, grauer, weißer und einer dunkleren, fast schwarzen Farbe zu sehen waren: der Beweis dafür, dass sie tatsächlich an ihrem Bild gemalt hatte, wie sie behauptete. »Und du weißt tatsächlich nichts mehr davon, dass du dir meinen Napoleon-Cognac einverleibt hast?«
»Wie ich schon sagte, nein.«
Simon fuhr sich mit einer verzweifelten Geste durchs Haar. Die Sache war ihm ein Rätsel, das sich nicht so leicht lösen ließ. Da waren diese Gesichter auf dem Bild. Und jemand hatte sie darauf gezeichnet. Jessica behauptete, es nicht gewesen zu sein, aber die schwarzen Farbspuren auf ihrem Pullover bewiesen, dass sie irgendetwas damit zu tun hatte. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. Hatte sie vielleicht einen mentalen Blackout und konnte sich deshalb nicht erinnern? Und noch eine weitere Erklärungsmöglichkeit fiel ihm ein: Es konnte sein, dass sie sich vor der Realität verschloss – oder dass die Depression ernster war, dass er vermutet hatte. Doch der beunruhigendste Gedanke war, dass das womöglich die ersten Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie waren.
Doch für ihn waren auch das keine ausreichenden Erklärungen dafür, warum sie düstere Gesichter über ihre Landschaft gemalt und sie so ruiniert hatte. Nicht zum ersten Mal fühlte er sich medizinisch überfordert. Geisteskrankheiten – Psychiatrie – lagen jenseits seines Spezialgebietes und auch jenseits dessen, womit er sich wohl fühlte.
»Ich sehe mal nach, ob ich etwas gegen deine Kopfschmerzen habe«, bot er an und ging ins Bad.
Jessica musste in der Zwischenzeit – ob sie wollte oder nicht – das Gemälde ansehen, beziehungsweise das, was mit ihrem Bild geschehen war. Die Gesichter, die kräftigen Farbstriche, der Zorn und die Emotion darin waren außerordentlich. Es war, als ob derjenige, der das getan hatte, die Dargestellten wirklich gehasst hätte. Tief im Inneren spürte sie ihre eigene Unfähigkeit, mit solch einer Leidenschaft zu malen. Nicht, dass sie diese Emotionen nicht hatte. Sie fühlte sie, für Damian. Und für Simon? Sie wischte den Gedanken an ihre Beziehung zu ihrem Mann fort, damit wollte sie sich ein andermal befassen.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Bild zurück. Sie war der Meinung, dass sie nicht das Talent hatte, starke Emotionen erfolgreich auf die Leinwand zu bringen. Das erste Gesicht, das einzige, das vollendet war, stellte ein
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