Das Lied der roten Steine: Australien-Saga (German Edition)
über Marcus' vorläufige Diagnose von Jessicas Problemen Luft machen.
»Er ist doch wohl völlig auf dem Holzweg, nicht wahr?«, fragte Simon Sue.
»Das glaube ich allerdings ebenfalls. Marcus ist ein netter Kerl, da sind wir uns beide einig. Aber bei seiner Vorliebe für die Geschichte der Insel und der Tatsache, dass er hier geboren ist, glaube ich, dass er ein wenig vorbelastet ist, was die Diagnose Ihrer Frau angeht. Geister, die Besitz von ihr ergreifen!«, stieß sie hervor. »Ich meine, niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, könnte dem zustimmen.«
»Hmm, vielleicht haben Sie Recht. Dennoch stellt sich mir ein Problem: Wie lange kann ich es ihm erlauben, so weiterzumachen, bevor ich der Sache ein Ende bereite? Alle paar Tage scheint Jessica eine Stufe weiter zu sinken. Vielleicht sollte ich Nikko einfliegen lassen, um nach ihr zu sehen …«
»Warten Sie, Simon. Sie haben Marcus versprochen, ihm noch etwas Zeit zu geben. Lassen Sie ihm Zeit, bis seine Kinder wieder nach Neuseeland geflogen sind. Wenn sich dann nichts geändert hat, rufen Sie Ihren Freund aus Westaustralien an oder eventuell einen Psychiater aus Brisbane.« Sie nahm einen Zettel aus ihrer Rocktasche und reichte ihn ihm. »Dieser Doktor John Brinkley ist angeblich einer der Besten.«
»Vielen Dank, Sue«, lächelte er. »Wissen Sie, Sie machen es mir leichter, damit fertig zu werden … mit dieser seltsamen Sache.« Er seufzte. »Gott weiß, mir wäre es lieber, wenn der Aufsichtsrat nichts von ihren … Problemen erführe. Es wäre so peinlich.«
Sie lächelte zurück, hocherfreut über das Kompliment, da es ihr seine wachsende Abhängigkeit von ihr bestätigte. »Ich finde, das gehört zu meinem Job, Simon. Und der Aufsichtsrat wird nichts davon erfahren, das verspreche ich.« Machte sich Simon Sorgen um seinen Job oder um den Anschein? Interessant, dachte sie. Hatte sie hier eine weitere Schwachstelle in seiner Rüstung gefunden, eine, die sie später zu ihrem Vorteil nutzen konnte?
»Komm schon, Dad!«, rief Rory seinem Vater zu. »Das Wasser ist nicht kalt!«
Marcus zog eine große Show ab, steckte den Fuß ein paar Zentimeter ins Wasser und zog ihn dann schnell zurück, wobei er so tat, als sei es eiskalt. Während sie der Vorstellung zusah, stellte Jessica unwillkürlich fest, dass Marcus ziemlich gut gebaut war. Breite Schultern und eine voluminöse, leicht behaarte Brust, schmale Hüften, um die sich seine Badehose schmiegte, und Oberschenkel, die noch die Muskulatur aus seiner Rugby-Zeit hatten. Plötzlich peinlich berührt von der abschätzenden Art, wie sie ihn musterte, und wie ihr von ihrer Einschätzung ganz heiß wurde, wandte sie sich ab, um Rory zu beobachten.
Der stand bereits hüfttief im Meer bei Emily Bay, Norfolks beliebtestem und sicherstem Badestrand. Der Teenager gab die Bemühungen um seinen Vater auf, wandte sich um und schwamm über den Ponton hinaus. Die See war relativ ruhig, da sich die Wellen auf dem Weg zum Strand bereits am Korallenriff brachen. Er schwamm, bis er auf ein paar weitere Schwimmer traf, die fast aus der halbmondförmigen Bucht hinausgeschwommen waren.
Jessica grinste, als sich Marcus daraufhin ins Wasser stürzte und die anderen Schwimmer einholte. Sie sah sich nach Kate um, die bei zwei kleinen Kindern hockte, die vor der Wasserlinie eine Sandburg bauten, und mit ihnen sprach. Kate war ein reizendes Mädchen und sah Marcus sehr ähnlich, während Rory vor jugendlichem männlichem Übermut schäumte und ständig aktiv war, entweder physisch oder mental. Merkwürdigerweise belasteten die Tee nager sie nicht, wie Simon befürchtet hatte, ganz im Gegenteil, sie fand ihre Gesellschaft reizvoll.
Es war ihr zweiter Ausflug mit Marcus und seinen Kindern. Anfangs war es ein wenig seltsam gewesen, ihn in einer so anderen Rolle, als Vater, zu sehen. Er war ein guter Vater. Er neckte sie, hauptsächlich wegen der Musik, die sie hörten, spielte mit ihnen und hörte zu, wenn sie ihm etwas erzählten, was sie für wichtig hielten. Sie stellte fest, dass sie ihn auch ein wenig bemitleidete, weil er sie wegen der Trennung nur so selten sah. Bei ihrem ersten Spaziergang mit den Kindern über die Insel hatte Marcus ihr erzählt, dass seine Frau die Scheidung eingereicht hatte.
Sie seufzte. Wusste sie nicht nur zu gut Bescheid darüber? Schließlich hatte sie Jahre – manchmal kam es ihr vor wie ein ganzes Leben – damit verbracht, das Für und Wider geschiedener Eltern abzuwägen, die
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