Das Lied der schwarzen Berge
gesehen.
»Die Flasche ist mir hingefallen«, sagte Rosa. »Sie ist mir aus der Hand gerutscht.«
Der Offizier antwortete nicht darauf. Er ging mit Rosa und Meerholdt an die Hausecke, eine Ecke, die dauernd im Schatten der anderen Baracken lag. Der Sand war getrocknet, aber er hatte durch die Nässe eine feste Schicht gebildet, und in dieser Schicht waren noch deutlich zwei Fußabdrücke zu erkennen … ein kleiner, flacher und ein ganz dünner, verwischter, punktmäßiger Abdruck.
»Hier haben zwei Personen gestanden«, sagte der Offizier und sah Rosa scharf dabei an. »Du … das ist der flache Abdruck … und ein anderer, der hochhackige Schuhe trug. Hier, siehst du den Abdruck des dünnen Absatzes? Diesen Punkt im Sand? Und wer trägt hier im Lager hochhackige Schuhe? Wer wohl? Na, sag' es schon, Rosa …«
»Elena …« Sie sah hilfesuchend zu Meerholdt, der bleich an der Hauswand stand. »Das ist doch Dummheit, Herr Hauptmann! Sie wollen doch nicht etwa …« Er sprach nicht weiter, sondern legte den Arm um Rosas Schulter. Diese Geste sollte Schutz bedeuten, sie drückte aber auch die Verbundenheit aus, die Meerholdt mit Rosa verband. Der Offizier wiegte den Kopf.
»Keine Dummheit ist so dumm, daß sie nicht von Frauen verbrochen werden könnte. Und eine liebende, eine eifersüchtige Frau kann die Naturgesetze aus den Angeln heben! Mit der ersten eifersüchtigen Frau wurden auch die ersten Bestialitäten geboren«, sagte er sarkastisch.
»Sie müssen andere Frauen von Rosa unterscheiden lernen. Sie unterstellen hier etwas, ohne es beweisen zu können.«
»Sie haben mich in meiner Beweisführung eben unterbrochen. Es war ein psychologischer Fehler, Rosa das Rückgrat zu stärken. Ein Geständnis ist immer ein Zusammenbruch – ein physischer wie ein psychischer.«
»Sie hat nichts zu gestehen!« rief Meerholdt laut.
Der Offizier nickte. »Natürlich nicht.« Er wandte sich wieder Rosa zu und faßte sie am Arm. »Du hast hier also Elena Osik getroffen? Ihr habt euch über Herrn Meerholdt unterhalten! Fräulein Osik beschimpfte dich, du beschimpftest Fräulein Osik, sie schlug dich, sie schlug dir die Flasche aus der Hand, die du für Herrn Meerholdt gekauft hattest!« Seine Stimme wurde lauter und lauter, am Ende brüllte er Rosa an, die am ganzen Körper zitterte. »Die Flasche lag im Sand … kaputt … der Wein floß in den Sand, Meerholdts Wein! Und sie schlug dich wieder … da hast du sie genommen, zu Boden geworfen, hast sie erwürgt und dann …«
»Nein!« schrie Rosa auf. »Nein! Nein!« Sie klammerte sich an Meerholdt fest und versteckte ihr Gesicht an seiner Brust. »Sie hat mich geschlagen, immer wieder geschlagen, aber ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe ihr nichts getan … Ich schwöre es … ich schwöre es …«
Ihre Stimme brach.
Der Offizier sah Meerholdt groß an. In seinen Augen stand Mißtrauen. »Ich muß sie mit nach Belgrad nehmen«, sagte er.
»Ich verbürge mich für Rosa!« Meerholdt umfaßte sie und drückte sie schützend an sich. »Sie bleibt im Lager. Ihr sogenanntes Verhör ist eine Schande. Sie legen dem Mädchen Dinge in den Mund, die sie gar nicht kennt. Die außerhalb ihrer Lebenssphäre liegen!«
»Im Zorn sind viele Menschen unberechenbar. Eine Frau, die haßt, ist schlimmer als hundert Tiger, sagt ein indisches Sprichwort. Und es war abgrundtiefer Haß zwischen den beiden Frauen! Haß Ihretwegen, Herr Meerholdt! Auch Sie trifft eine moralische Schuld an dem Tode Fräulein Osiks!«
Ralf Meerholdt sah an dem Offizier vorbei. Er überblickte die halbfertige Talsperre, die Arbeitskolonnen, die gefällten Wälder, die Geburt einer neuen Landschaft, erdacht von ihm und von ihm in die Tat umgesetzt. »Ich werde Zabari verlassen«, sagte er leise. »Ich werde auch Jugoslawien verlassen. Ich gehe zurück nach Deutschland.«
»Es wäre eine Flucht vor dem Gewissen.«
»Nennen Sie es eine Flucht vor der Erinnerung. Ich hatte eine Rechnung aufgestellt … eine mathematische Gleichung mit drei Herzen und einem Unbekannten, das ist Schicksal nannte. Logisch mußte diese Gleichung aufgehen – x, das Schicksal, war rechnerisch vorherbestimmt! Heute sehe ich den Fehler dieser Rechnung – der Mensch! Der Mensch ist keine Zahl, er ist außerhalb jedes logischen Prinzipes. Der Mensch ist trotz Medizin, Physik, Chemie, Psychologie und Philosophie ein ewiges Rätsel, eine fleischgewordene Mystik. Können Sie mit der Mystik mathematisch verfahren? Das war mein Fehler – und
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