Das Lied der schwarzen Berge
ich möchte nicht weiterleben in einer Umgebung, der mein persönlicher Fehler Unglück gebracht hat.« Er hob die Schultern und sah zurück auf den Offizier. »Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Aber ich gehe –«
Rosa blieb in Zabari, als der Offizier nach Titograd fuhr, um das gefundene Unterhemd mit einem genauen Bericht nach Belgrad zu schicken. Stanis Osik, dem man die Nachricht vom Tode, vom erwiesenen Tode, seiner Tochter schonend mitteilte, saß apathisch auf der Terrasse seiner weißen Villa und starrte in die schmutziggrauen Fluten der Sava. Tot, empfand er. Tot! Was bedeutet tot? Kein Wiedersehen? Auslöschen, einfach auslöschen, so, wie man einen Bleistiftstrich vom Papier radiert, und es bleibt nichts als wieder eine weiße Fläche?
Er hatte die Zimmer Elenas abschließen lassen, er betrat nicht mehr den Teil des Hauses, in dem sie wohnte. Die Rosen, die sie vor der Terrasse gepflanzt und gepflegt hatte, ließ er herausreißen, das Pony, auf dem sie als Kind ritt, verkaufte er und erschoß den Hund, der Elena immer in Zagreb begleitete. Nichts, gar nichts mehr wollte er sehen … keine Erinnerung sollte ihn quälen, kein Erkennen, keine Gedanken. Doch je mehr er gegen sein Schicksal kämpfte, um so tiefer sank das Bild Elenas in seine Seele. Er trank wieder; sinnlos betrunken schlug er in seiner Villa gröhlend die Möbel zusammen und bewarf sein Spiegelbild mit Gläsern. Dann saß er wieder apathisch im Sessel, starrte über die Sava und aß wie eine aufgedrehte, mechanische Puppe. Ab und zu schrie er, grell, tierisch, umklammerte seinen Kopf mit beiden Händen, als wolle er ein Auseinanderspringen verhindern. Er brüllte wie ein Stier und stampfte mit beiden Beinen auf die Erde.
»Osik ist wahnsinnig geworden«, hieß es in Belgrad. Man beurlaubte ihn und übertrug die noch auszuführenden Bauten einem Regierungsgremium, das als Leiter Ralf Meerholdt einsetzte. Nach der Fertigstellung der Zabarisperre sollte er von Belgrad aus die Bauten leiten. Eine besondere Ehrung für den Deutschen.
Zwei Tage nach dem Auffinden des blutigen Unterkleides entdeckte ein Transportarbeiter bei Räumungsarbeiten an der neuen Straße ein zusammengeknülltes, zerrissenes und blutbespritztes Kleid.
Wieder fuhren Hauptmann Vrana und Meerholdt zu der Stelle und fanden ihre Vermutung bestätigt: Es war Elenas Kleid, das sie zuletzt trug, ehe sie verschwand. Die Sonderbeamten aus Belgrad brauchten diesesmal nur zehn Minuten zur Feststellung der Blutgleichheit. Sie stimmte.
»Das Kleid«, sagte Meerholdt sinnend, »und die Unterwäsche lagen in genau entgegengesetzter Richtung. Fällt Ihnen das nicht auf, Vrana?«
Hauptmann Vrana betrachtete das zerrissene Kleid. »Warum haben wir es nicht gefunden, als wir Elena suchten? Wir haben mit Hunderten von Leuten jeden Meter abgesucht … auch die Stellen, an denen jetzt die Stücke lagen!«
Meerholdt durchzuckte es heiß. »Der Mörder lebt unter uns!« sagte er heiser. »Er hat die blutigen Kleidungsstücke bei sich … und Stück für Stück versteckt er sie jetzt, um alle Spuren zu verwischen.«
»Verhängen Sie ab sofort eine neue Ausgangssperre für alle Personen im Lager. Auch für meine Soldaten werde ich das befehlen. Niemand verläßt die Baracken … eine Woche lang!«
»Ich werde es anordnen«, sagte Meerholdt dumpf.
Das Lager wurde gesperrt. Militärposten bewachten die Straßen und das Dorf. Als Jossip am Abend hinauf in die Berge stieg, grüßten sie ihn freundlich und riefen ihm Witze nach. Auch Meerholdt und Vrana sahen Jossip.
»Er hat seine Herde auf den Bergweiden«, sagte Ralf. Vrana nickte und rauchte ein türkische Zigarette, die ihm ein Freund aus Ankara schickte.
Am nächsten Morgen fand Vorarbeiter Drago Sopje neben einer Betonmischmaschine das blutbefleckte Seidenhöschen Elena Osiks. An einer Betonmaschine, die am Abend noch in Betrieb war!
In dieser Nacht verzweifelte Ralf Meerholdt und suchte wie ein verstörtes Kind Zuflucht in den Armen Rosas.
Vor der großen ›Chefbaracke‹ standen etwa dreihundert Arbeiter und sahen ernst und nachdenklich auf Ralf Meerholdt, als er am nächsten Morgen zu den Baustellen gehen wollte. Militär riegelte den Lagerplatz ab, Hauptmann Vrana schrie herum, Pietro Bonelli, mit einer weißen Schürze vor dem Bauch, rannte durch die Reihen der stummen Arbeiter und gestikulierte wie ein Wilder.
Verblüfft blieb Meerholdt auf der oberen Stufe des Eingangs stehen. Hauptmann Vrana drängte sich durch die
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