Das Lied der schwarzen Berge
zusammenschichtete, sah sie, daß der Boden neben dem aufragenden Felsen feucht war und ein kleines Rinnsal zwischen dem zerklüfteten Plateau versickerte. Es war der gleiche kleine Bach, den Jossip entdeckt und der ihn zu dem eingeschlossenen See geführt hatte.
Verwundert ging Rosa dem Bache nach. Er war neu … das sah sie. Sie kannte jedes Wasser um Zabari herum, auch jene Bäche und Fälle, die in der Zeit der Schneeschmelze entstehen und im Frühjahr, wenn aller Schnee von den Felsen geflossen war, ebenso schnell wieder eine steinige Rinne wurden wie vordem. Doch dieser Bach lief … er hatte Wasser, immer neues Wasser, und längst war kein Schnee mehr auf den Bergen!
Am Fuße des großen Felsens, der Hand, die Zabari schützte, blieb sie stehen und sah dem dünnen Wasserfaden nach, der aus einer Spalte herausrann.
Eine neue Quelle … neues Wasser für Zabari, für die Felder, die Wiesen, die Herden. Wasser – der Inbegriff allen Lebens …
Als Rosa bei Meerholdt anklopfte, umfing er sie, glücklich, daß sie gekommen war. Er führte sie in sein Zimmer und drückte sie auf einen Stuhl.
»Es ist gut, daß du kommst«, sagte er. »Wir müssen miteinander sprechen … In diesen Tagen hat sich so vieles geändert, so ungeheuer Schreckliches hat sich ereignet, daß ich Zabari verlassen werde …«
Sie sah ihn an, mit großen, wehmutsvollen Augen. Aber sie sagte nichts. Sie sah ihn nur an wie ein schönes Bild, das weggetragen werden soll.
»Ich werde zuerst nach Belgrad gehen und dann zurück nach Deutschland. Ich kann hier nicht weiterleben.«
»Wegen Elena?« fragte sie.
»Auch wegen Elena. Ich fühle mich mitschuldig an ihrem Tod.«
»Sie ist freiwillig nach Zabari gekommen, und sie ist freiwillig geblieben! Sie hat dich geliebt!« In ihren Augen blitzte es auf. »Oh – ich hasse sie … ich gönne ihr den Tod!«
»Rosa!« rief Meerholdt entsetzt.
Sie schüttelte wild die langen Haare. »Niemand liebt dich so wie ich! Niemand!« Sie sprang auf, warf sich an ihn und umklammerte seinen Hals. Ihr Körper drängte sich an ihn, sie war wie eine Katze und krallte sich an ihm fest. »Wenn du gehst, gehe ich mit! Es gibt keinen Ort auf dieser Welt, an dem ich nicht mit dir leben könnte! Sag', daß du mich mitnimmst. Sag', daß du nicht allein gehst … Ich sterbe, wenn du fort bist. Du bist mein Atem, mein Blut, mein Herz … du bist alles … alles.«
Er drückte sie an sich, überwältigt von ihrem Ausbruch. Seit jenem Tage, an dem er wußte, daß er Rosa liebte, als er sich klar geworden war über seine Gefühle und sich nicht mehr wunderte, daß er bei allem Denken, bei aller Arbeit, bei jeder Handlung immer nur in der Mehrzahl dachte: Nützt es Rosa und mir … wird es Rosa Freude machen … was wird Rosa dazu sagen … ob es Rosa recht ist … immer Dinge, die eine tiefe Gemeinsamkeit besaßen … seit jenem Tage hatte er oft an die Zukunft gedacht und an die große Frage, ob Rosa wirklich ihr Land verlassen und mit ihm nach Deutschland gehen würde.
Man kann einen Baum umpflanzen, wenn er jung ist. Doch immer bleibt es ein Wagnis: Wächst er an oder geht er zugrunde am fremden Boden, an der fremden Luft, den fremden Winden und Regen?! Und man hofft und ist glücklich, wenn die ersten jungen Triebe erscheinen und aus ihm die neue Heimat hervorbricht, der Lebenswille in der Fremde! Ein Mensch? Ist ein Mensch ein Baum, eine Pflanze, ein Tier, das man exportieren kann? Als in Deutschland die Landarbeiter knapp wurden, warb man Italiener an. Sie kamen auf die großen Höfe Niedersachsens und Westfalens … und sie vergingen vor Heimweh, lösten die Verträge und zogen zurück in das Elend ihrer Heimat. Lieber in Hütten leben, aber die Sonne Italiens sehen, den Wein an den Hängen, das blaue Meer mit den Delphinen, den Eselskarren, der knarrend über die staubige Straße holpert und das Obst aus den Gärten zu den Märkten bringt. Und Zeit haben, viel Zeit … Gott schuf die Welt, damit man sie erlebt, nicht damit man sie durchrast. Und so kamen sie zurück aus dem kalten Deutschland und von den vollen Schüsseln mit Bratkartoffeln und Schinken und Quark … und sie aßen in der Heimat vor Glück weinend wieder ihre Handvoll Spaghetti mit der Tomatensoße oder dem zerriebenen Parmesan. Sie alle kamen zurück in das Elend, um zu Hause zu sein … die Ungarn, die Algerier, die Griechen, die Spanier, die Portugiesen und die Jugoslawen … Ein Mensch ist kein Baum, und das beste Wasser der Fremde ist
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