Das Lied der schwarzen Berge
Nachts am Waldrand und in den Felsen gesehen hatten, die Fackeln, die die erste Unruhe unter die Leute brachten und die geistergläubigen Jugoslawen erregten.
Gespenster hinterlassen keine Spuren, am allerwenigsten verkohlte Fackelstiele. Ein Mensch geisterte hier also herum, und er mußte einen tiefen Grund haben, gerade diese Gegend des Nachts zu besuchen.
Meerholdt kniff die Augen zusammen. Die Quelle? War es die Quelle? Verbarg sich mehr hinter ihr? Er steckte die verkohlten Stiele in die Aktentasche und ging zu der Felsspalte zurück.
Das Wasser rann … unaufhörlich … still … eiskalt und glasklar … so, als ranne aus einem Eimer durch ein winziges Loch ein dünner Wasserstrahl.
Aus einem Eimer … aus einem Felsen … aus einem riesigen Trichter … einem eingeschlossenen See.
Ralf Meerholdt faßte sich an die Stirn und lehnte sich gegen den Felsen. Mein Gott, durchfuhr es ihn, wenn dies war ist! Wenn dieser Felsen hohl ist und einen See verbirgt! Hier läge eine Kraft von mehreren Talsperren, hier könnte er Naturgewalten frei machen, die sich mit elektrischer Erzeugung bis Sarajewo bemerkbar machten! Hier könnte er Turbinen treiben lassen, die ganz Montenegro mit Strom versorgten … ein unerschöpfliches Reservoir, dessen Wasser dann weitergeleitet wurde in den Stausee unterhalb Zabaris.
Meerholdt schloß die Augen vor Erschütterung. Er sah schon die Wirklichkeit: Riesige Rohrleitungen, die das Wasser aus den Felsen in die Turbinenhäuser leiteten, die den Wasserdruck noch mehr komprimierten und die Turbinen rotieren ließen. Turbinen, die dort auf dem Hang stehen würden … Haus an Haus … und von ihnen ausgehend die Stahltürme der Überlandleitungen, singend und brummend voll Strom … kilometerweit über Felsen und Schluchten, Berge und Ebenen … bis nach Sarajewo, Titograd und Novi Pazar. Von dem Hang aus, aus den Turbinen geschleudert, würde das Wasser dann in den Stausee laufen, in das bis zum Rand gefüllte Tal, und dort würde es wieder in die Turbinen stoßen, die unten, unterhalb der hohen Mauer und des Erdwalles, auf der Betonsohle standen … Strom für Belgrad, Titovo Uzice und Mostar. Rohre, in der Sonne blinkend wie die Pipeline vom Persischen Golf nach Haifa; Rohre, die eine Welt veränderten und das Wasser, das Millionen Kilowatt in die Leitungen preßte, auf die dürren Felder der armen Bauern leiteten und einen Garten entstehen ließen, wo vorher Stein und Sand das Gesicht der Landschaft bestimmten.
Die Hand Rosas, die sich auf seine Schulter legte, riß ihn aus seinen Träumen. Er wischte sich über die Augen und blickte auf den kleinen Wasserstrahl zu seinen Füßen.
»Wenn es wahr ist, Rosa«, sagte er stockend, »wenn ich recht behalte mit meinen phantastischen Gedanken, dann hast du heute eine neue Welt entdeckt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht.«
Er nickte. »Wie kannst du das auch?« Er atmete tief auf. »Ich kann es ja selbst kaum verstehen. Ich kann es noch gar nicht glauben! Es ist zu phantastisch, um wahr zu sein. Die Vernunft sträubt sich dagegen, solche Träume als wahr anzusehen. Aber ist es wahr, gibt es wirklich das, was ich hier hinter dem Felsen vermute …« Er legte die Hände an den Felsen … »Umarme ich hier die Kraft, die noch kein Mensch gebändigt hat, dann wird man in zehn Jahren Montenegro nicht wiedererkennen.«
»Es ist mehr als eine Quelle?«
»Viel mehr, Rosa … ungeheuer viel mehr. Weißt du, was ein Ozean ist?«
»Nein.«
»Er ist ein großes Meer … ein Meer, größer als Länder und Kontinente … ein Meer, über das du wochenlang fährst, ohne ein Ufer zu sehen.« Er klopfte an den Felsen. »Hier drin, in dem Felsen, Rosa, liegt ein Ozean im Vergleich zu einer Quelle, wie wir dachten. Ein See, ein unterirdischer, eingeschlossener See.«
Rosas Gesicht wurde bleich. »Ein See über Zabari?« sagte sie leise. Ihre Stimme schwankte. »Wenn der Felsen bricht, sind wir alle vernichtet …«
Einen Augenblick hielt Meerholdt den Atem an. Rosa sprach aus, was außerhalb seiner bisherigen Gedanken lag. Jetzt gewann es Gestalt, jetzt wurde es eine Gefahr, eine riesengroße, allmächtige, überwältigende Gefahr.
Die Fackeln! Der Mann mit den Fackeln kannte den See! Er hatte den Stein auf ihn geworfen, er hatte Elena Osik getötet … er würde auch den Felsen sprengen und die Natur ersaufen lassen in einer neuen Sintflut! Die Natur, Zabari, das Bauwerk, die tausend Arbeiter, ihn und Rosa …
»Wir müssen
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