Das Lied der Sirenen
eines Metzgers, wie die unbeholfene und unfachmän-
nische Ausführung der Schnitte in die Kehlen und der Verstümmelungen an den Genitalien zeigen.
Tony drehte sich vom Bildschirm weg und schaute zu Carol hinüber. Sie war völlig in das Lesen der Berichte vertieft, und zwischen ihren Augen war die Tony bereits vertraute senkrechte Falte. War er verrückt, weil er nicht auf das einging, was sie anzubieten schien? Mehr als jede andere Frau, mit der er bisher eine Beziehung hatte, würde sie den Druck verstehen, dem er in seinem Job ausgesetzt war, die Höhen und Tiefen, die damit verbunden waren, wenn man in die Gehirne von Soziopathen einzudringen versuchte. Sie war intelligent und einfühlsam, und wenn sie sich so intensiv einer Beziehung widmete wie ihrem Beruf, würde sie stark genug sein, ihm bei der Bewältigung seiner Probleme zu helfen und sie bestimmt nicht als Knüppel benutzen, um auf ihn einzuprügeln.
Carol merkte plötzlich, daß er sie ansah, und sie schaute auf und lächelte müde. In diesem Augenblick traf Tony seine Entscheidung. Nein. Er hatte genug Probleme, mit dem Mist in seinem Kopf zurechtzukommen, ohne daß er auch noch zuließ, daß ein anderer da hineingezogen wurde. Carol war einfach zu scharfsinnig, als daß er sie näher an sich herankommen lassen durfte. Sie würde ihn schnell durchschauen.
»Läuft es gut?« fragte sie.
»Ich fange an, ein Gefühl für Handy Andy zu kriegen«, antwortete er.
»Das kann kein sehr angenehmes Gefühl sein«, sagte Carol.
»Nein, aber dafür werde ich schließlich bezahlt.«
Carol nickte. »Und ich nehme an, irgendwie ist es auch befriedigend. Und aufregend, oder?«
Tony lächelte gequält. »Sicher, das stimmt schon, aber ich frage mich manchmal, ob mich das nicht auch so verdreht macht, wie es diese Verbrecher sind.«
Carol lachte. »Das gilt für uns beide. Man sagt ja, der beste Verbrecherjäger sei der, der sich in die Köpfe der Gejagten versetzen kann. Wenn ich also die Beste in meinem Job sein will, muß ich wie ein Verbrecher denken. Aber das heißt ja nicht, daß ich tun möchte, was sie tun.«
Seltsam getröstet von ihren Worten, wandte Tony sich wieder dem Computer zu.
Auch aus der Zeit, die der Mörder mit seinen Opfern verbringt, können wir bestimmte Schlüsse ziehen. In drei der vier Fälle scheint sich der Mörder am frühen Abend an die Opfer herangemacht und die Leichen dann in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages abgelegt zu haben. Interessanterweise hat er im dritten Fall weitaus mehr Zeit mit dem Opfer zugebracht; er hat es offensichtlich fast zwei Tage am Leben erhalten. Es war der Mord, der an den Weihnachtstagen geschah.
Es kann sein, daß es ihm wegen der anderen Anforderungen an seine Lebensgestaltung normalerweise nicht möglich ist, mehr Zeit mit den Opfern zu verbringen, Pflichten, die über Weihnachten in den Hintergrund treten. Wahrscheinlich sind es eher berufliche als häusliche Anforderungen, obwohl es möglich ist, daß er mit einem Menschen eine Beziehung unterhält, der ohne ihn über die Weihnachtstage zu seiner Familie gefahren ist und ihm so die Gelegenheit gab, sich längere Zeit mit dem Opfer zu beschäftigen. Eine andere Möglichkeit ist die, daß er die ausgedehntere Zeit, die er mit Gareth Finnegan zubrachte, als bizarres Weihnachtsgeschenk an sich selbst betrachtete, als Belohnung für den guten Ablauf seiner vorangegangenen »Arbeiten«.
Die kurze Zeitspanne, die zwischen den Morden und dem Ablegen der Leichen vergeht, läßt die Vermutung zu, daß er während der Folterungen und Morde weder Alkohol noch Drogen in größeren Mengen zu sich nimmt. Er will und darf
es nicht riskieren, wegen unsicherer Fahrweise von der Polizei gestoppt zu werden, während er eine Leiche im Kofferraum transportiert. Und obwohl er, wenn sich die Gelegenheit bot, die Wagen seiner Opfer benutzt zu haben scheint, hat er mit Sicherheit ein eigenes Auto. Es wird sich dabei um ein relativ neues in gutem Zustand handeln, da er es sich nicht leisten kann, bei einer Routinekontrolle durch die Polizei näher unter die Lupe genommen zu werden.
Tony klickte das Icon »Dokument speichern« auf dem Bildschirm an und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Er war an einer Stelle angekommen, an der er gut unterbrechen konnte. Morgen früh würde er die detaillierte Kontrolliste der charakteristischen Merkmale, die er bei Handy Andy entdeckt zu haben glaubte, vervollständigen und Vorschläge für mögliche
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