Das Lied der Sirenen
Wort nicht mir gegenüber, du … du wertloser Abschaum der Menschheit«, stotterte sie. »Verdammte Scheiße, sag es ja nicht!« Ihre Stimme war nur noch ein leises, kehliges Wimmern. Sie drehte sich ganz plötzlich um und rannte mit klappernden Absätzen die Treppe hinauf.
»Ich liebe dich, Angelica!« schrie Tony verzweifelt hinter den sich entfernenden Schritten her. »Ich liebe dich!«
Carol und Morris standen vor der Tür des schmalen Reihenhauses in der Gregory Street. Carol brauchte keine Psychologin zu sein, um Morris’ Körpersprache zu verstehen. Er hatte die Schnauze voll, wegen Carols blödsinnigen Intuitionen in der Gegend rumzukurven. »Die sind anscheinend bei der Arbeit«, sagte er nach ihrer vierten Attacke auf die Türklingel.
»Sieht so aus«, stimmte Carol zu.
»Sollen wir später noch mal herfahren?«
»Lassen Sie uns erst bei den Nachbarn nachfragen«, meinte Carol.
»Vielleicht ist irgendwo einer zu Hause und kann uns sagen, wann die Thorpes normalerweise von der Arbeit zurückkommen.«
Morris schaute drein, als wäre er lieber im Einsatz bei einer Studenten-Demo. »Ja, Ma’am«, erwiderte er mit gelangweilter Stimme.
»Sie übernehmen die gegenüberliegende Straßenseite, ich diese.« Carol sah ihm nach, als er sich müde wie ein Bergarbeiter nach seiner Schicht über die Straße schleppte, schüttelte seufzend den Kopf und wandte dann ihre Aufmerksamkeit der Nummer zwölf zu. Die Häuser entsprachen durchaus Tonys Vorstellung von der Behausung des Killers. Der Gedanke an Tony machte Carol wieder wütend. Wo zum Teufel steckte er? Sie brauchte heute dringend seinen Rat, gar nicht zu reden von ein wenig Unterstützung bei der Verfolgung ihrer Idee, die alle anderen für Zeitverschwendung zu halten schienen. Er hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt für die Aufnahme in die Vermißtenliste aussuchen können. Es war unverzeihlich. Er hätte doch wenigstens seiner Sekretärin Bescheid geben können, die jetzt gezwungen war, die für ihn bestimmten Telefonanrufe entgegenzunehmen und sich Entschuldigungen für ihn auszudenken.
An der Tür von Nummer zwölf gab es keine Klingel, und so schlug sich Carol die Fingerknöchel wund. Die Frau, die nach einer Weile öffnete, sah aus wie eine Karikatur aus einer Seifenoper. Sie war in den Vierzigern, und ihr Make-up wäre für ein Dinner in Los Angeles maßlos übertrieben gewesen, ganz zu schweigen von einem frühen Nachmittag in einer Seitenstraße in Bradfield. Ihr gefärbtes platinblondes Haar war zu einem hohen, ein wenig zur Seite gerutschten Bienenkorb aufgetürmt. Sie trug einen engen schwarzen Pullover mit weitem Rollkragen, durch den ein Brustansatz mit faltiger Haut hindurchschimmerte, glänzende enge Leggings, weiße Schuhe mit Pfennigabsätzen und ein dünnes goldenes Fußkettchen. Eine Zigarette hing in ihrem linken Mundwinkel. »Was gibt’s, Schätzchen?« fragte sie mit nasaler Stimme.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe«, sagte Carol und zückte ihren Dienstausweis. »Detective Inspector Carol Jordan von der Polizei von Bradfield. Ich wollte mit Ihren Nachbarn von Nummer vierzehn, den Thorpes, sprechen, aber anscheinend ist niemand zu Hause. Können Sie mir sagen, um welche Zeit sie normalerweise von der Arbeit zurückkommen?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie mich nicht, Schätzchen. Diese Kuh kommt und geht zu jeder Tages- und Nachtzeit.«
»Und Mr.Thorpe?«
»Welcher Mr.Thorpe? Da gibt es keinen Mr.Thorpe, Schätzchen.« Sie lachte krächzend. »Klar, Sie haben sie ja noch nie zu Gesicht bekommen. Ein Mann, der so eine häßliche Kuh heiraten würde, müßte blind und verdammt scharf sein. Was wollen Sie denn von ihr?«
»Es handelt sich nur um eine Routineuntersuchung«, antwortete Carol.
Die Frau schnaubte verächtlich. »Erzählen Sie doch keinen Scheiß«, sagte sie. »Ich habe genug Folgen von
Die Abrechnung
gesehen, um zu wissen, daß man keinen Inspector zu einer Routineuntersuchung losschickt. Es wird höchste Zeit, daß diese Kuh hinter Gitter kommt, wenn Sie meine Meinung hören wollen.«
»Warum das denn, Mrs. …?«
»Goodison, Bette Goodison. Wie in Bette Davis. Weil sie eine häßliche, ungesellige Kuh ist, deshalb.«
Carol lächelte. »Ich fürchte, das ist kein Verbrechen, Mrs.Goodison.«
»Nein, aber Mord ist es, oder?« krähte Bette Goodison triumphierend.
Carol schluckte und hoffte, daß ihre Reaktion auf diese Worte nicht so sichtbar war, wie sie sie im Inneren
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