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Das Lied der Sirenen

Das Lied der Sirenen

Titel: Das Lied der Sirenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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nicht, stimmt’s? Du kannst es nicht beweisen, weil du nichts über mein Leben weißt.«
    »In einer Hinsicht hast du völlig recht, Angelica, ich kenne die Fakten deines Lebens nicht«, sagte Tony vorsichtig. »Aber ich glaube ein wenig über seine grundsätzliche Gestaltung zu wissen. Deine Mutter hat dir nicht den Eindruck vermittelt, dich zu lieben. Vielleicht hatte sie ein Problem mit dem Alkohol oder mit irgendwelchen Drogen, vielleicht verstand sie aber auch nur nicht, was ein kleines Kind braucht. Wie dem auch sei, sie hat dir nicht das Gefühl gegeben, geliebt zu werden, als du noch klein warst. Habe ich recht?«
    Angelica sah ihn finster an. »Mach weiter. Schaufle dir selbst dein Grab.«
    Tony verspürte erneut Angst. Was, wenn er falschlag? Was, wenn diese Frau die Ausnahme von jeder statistischen Wahrscheinlichkeit war, die Tony während der ganzen Ermittlung in den Vordergrund seiner Beurteilung gestellt hatte? Was, wenn sie der erste Serienmörder war, der aus einer glücklichen, liebevollen Familie stammte? Tony verwarf seine Zweifel als einen Luxus, den er sich in dieser Situation nicht leisten konnte, und fuhr fort: »Dein Vater war während deines Heranwachsens nicht oft zu Hause, und er hat dir nie gezeigt, wie stolz er auf seinen Sohn war, obwohl du alles getan hast, ihm diesen Stolz zu vermitteln. Deine Mutter hat zuviel von dir erwartet. Sie sagte dir immer wieder, du seist der Mann im Haus, und sie ging hart mit dir um, wenn du dich wie das Kind benahmst, das du warst, und nicht wie der Mann, den sie in dir sehen wollte.« Über Angelicas Gesicht huschte ein Anzeichen des Erkennens. Tony hielt inne.
    »Mach weiter«, krächzte sie durch zusammengebissene Zähne.
    »Es ist nicht einfach für mich, in dieser gekrümmten Haltung zu reden. Ist es nicht möglich, das Seil ein bißchen zu lockern, damit ich aufrecht stehen kann?«
    Sie schüttelte den Kopf, den Mund trotzig wie ein Kind verziehend.
    »Ich kann dich so nicht richtig ansehen«, versuchte er es anders.
    »Du hast so einen wunderschönen Körper. Wenn er das Letzte ist, was ich im Leben sehe, dann laß mich diesen Anblick wenigstens noch genießen.«
    Sie legte den Kopf schief, als wollte sie prüfen, ob seine Worte ernst gemeint waren oder ob es nur betrügerische Schmeichelei war. »Okay«, räumte sie schließlich ein. »Aber das heißt nicht, daß sich irgendwas ändert«, fügte sie dann hinzu, während sie zu der Winde ging und das Seil um etwa dreißig Zentimeter nachließ. Tony konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, als die Anspannung, mit der seine Schultermuskeln bis zum äußersten gestreckt worden waren, so plötzlich nachließ. »Das legt sich wieder«, sagte Angelica roh und ging zu ihrem Platz neben dem Camcorder zurück. »Rede weiter«, befahl sie. »Ich habe Fantasy-Geschichten schon immer gemocht.«
    Er streckte seinen Körper, gegen den Schmerz ankämpfend. »Du warst ein kluges Kind«, keuchte er, »viel heller im Kopf als die anderen. Es ist nicht einfach, Freunde zu gewinnen, wenn man so viel intelligenter ist als die Kinder um einen herum. Und es könnte sein, daß du oft umziehen mußtest, häufig andere Nachbarn, vielleicht sogar andere Schulen hattest.« Angelica hatte sich wieder unter Kontrolle, ihr Gesicht blieb teilnahmslos, als er fortfuhr: »Es war nicht leicht, Freundschaften zu schließen. Du hast gewußt, daß du anders warst, etwas Besonderes, aber zunächst war dir nicht klar, warum es so war. Dann, als Teenager, hast du festgestellt, woran es lag. Du warst nie wie die anderen Jungs, weil du gar kein Junge warst. Du hattest kein sexuelles Interesse an Mädchen, aber nicht, weil du schwul warst. Nein, es lag daran, daß du in Wirklichkeit selbst ein Mädchen warst. Du hast entdeckt, daß du das Gefühl hattest, endlich zu Hause angekommen zu sein, endlich deine wahre Bestimmung gefunden zu haben, wenn du Mädchenkleider angezogen hast.« Er machte eine Pause und fragte sie anlächelnd: »Wie hört sich das bis jetzt an?«
    »Sehr beeindruckend, Doktor«, sagte sie kalt. »Ich bin fasziniert. Mach weiter.«
    Tony spannte die Schultermuskeln an und stellte erleichtert fest, daß anscheinend noch kein bleibender Schaden entstanden war. Die Stecknadeln und Nägel, die wie wild in seine Rückenmuskeln stachen, schienen im Vergleich zu dem, was er bisher durchgemacht hatte, nur ein leichtes Pieksen zu sein. Er atmete tief durch.
    »Du hast dich dann entschlossen, die Person zu werden, die in

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