Das Lied der Sirenen
die Leichen abgelegt worden sind.«
Kevin erhob sich. »Paß auf, daß er sich nicht mit irgendwelchen seltsamen Männern in ein Gespräch einläßt.«
Tony nahm die Lasagne aus dem Mikrowellenherd und setzte sich an den Tresen in seiner Küche. Er hatte alle Daten, die er über die vier Mordopfer finden konnte, in den Computer eingegeben und dann die Datei auf eine Diskette überspielt, um zu Hause daran weiterarbeiten zu können, während er auf Carol wartete. Als er zur Straßenbahnhaltestelle gekommen war, hatte er gemerkt, daß er völlig ausgehungert war. Er hatte mit solcher Konzentration gearbeitet, daß er völlig vergessen hatte, zu essen. Er fand sein Hungergefühl auf seltsame Weise befriedigend, denn er wußte aus langer Erfahrung, daß er am meisten leistete, wenn er alle Befangenheit ablegte und in die Denkmuster eines anderen menschlichen Wesens eintauchte, wenn er sich in der persönlichen Logik und der andersgearteten Gefühlswelt dieses Menschen verlor.
Er aß die Lasagne so schnell er konnte, um sich wieder dem Computer und der Erstellung der Opferprofile zuwenden zu können. Noch einige Gabeln voll waren auf dem Teller, als das Telefon läutete. Ohne nachzudenken, hob Tony den Hörer ab.
»Hallo?« meldete er sich.
»Anthony«, sagte die Stimme. Tony fiel die Gabel aus der Hand.
»Angelica!« stieß er aus. Er war wieder zurück in seiner eigenen Welt, in seinem eigenen Kopf und gefangen vom Klang ihrer Stimme.
»Bist du heute besser gelaunt als gestern?« wollte sie wissen.
»Ich war gestern nicht schlecht gelaunt. Ich hatte nur einiges zu tun, was ich nicht einfach ignorieren konnte. Und du lenkst mich zu sehr ab.« Tony fragte sich, wieso er sich eigentlich vor ihr rechtfertigte.
»Das ist ja der Sinn der Sache«, erwiderte sie. »Ich habe dich vermißt, Anthony. Ich war so schrecklich scharf auf dich, und als du mich links liegengelassen hast wie eine alte Socke, war der Tag für mich gelaufen.«
»Warum machst du das eigentlich mit mir?« Er hatte diese Frage schon mehrmals gestellt, aber sie war ihm immer ausgewichen.
»Weil du mich verdienst«, antwortete sie. »Weil ich dich mehr begehre als irgendeinen anderen Menschen auf der Welt. Und weil du niemanden sonst in deinem Leben hast, der dich so glücklich machen kann wie ich.«
Es war immer dieselbe alte Leier. Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern gab irgendwelchen Schmus von sich. Aber heute abend wollte Tony Antworten haben, sich nicht mit Schmeicheleien abspeisen lassen. »Wie kommst du auf solche Ideen?« fragte er.
»Ich weiß mehr über dich, als du dir vielleicht vorstellst. Anthony, du mußt nicht mehr einsam sein«, sagte sie mit einem leisen Glucksen in der Stimme.
»Und was ist, wenn ich gern einsam bin? Wäre es nicht fair, mir zuzugestehen, daß ich einsam bin, weil ich es so will?«
»Ich habe nicht das Gefühl, daß du ein glücklicher Junge bist. An manchen Tagen kommst du mir vor, als ob du eine Umarmung mehr brauchen würdest als sonst was auf der Welt, an anderen, als ob du höchstens zwei Stunden geschlafen hättest. Anthony, ich kann dir inneren Frieden verschaffen. Frauen haben dich zutiefst verletzt, das wissen wir beide. Aber ich werde dich niemals verletzen. Ich kann bewirken, daß es dich nicht mehr schmerzt. Ich kann dir dazu verhelfen, daß du wie ein Baby schläfst, das weißt du. Alles, was ich will, ist, dich glücklich zu machen.« Die Stimme klang sanft, beruhigend.
Tony seufzte. Wenn doch nur … »Das glaube ich dir nicht«, sagte er hinhaltend. Von Beginn der Telefongespräche an hatte ein Teil in ihm den Hörer auflegen wollen, um dieser Qual zu entgehen. Aber der Wissenschaftler in ihm begehrte zu hören, was sie zu sagen hatte. Und der gedemütigte Mann in ihm hatte genug Selbsterkenntnis, um zu wissen, daß er geheilt werden mußte, und hoffte, daß das vielleicht ein Weg dazu war. Er hielt sich noch einmal seinen früheren Entschluß vor Augen, sie nicht von sich Besitz ergreifen zu lassen, so daß er, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hielt, sich immer noch von ihr zurückziehen konnte, ohne daß es ihn schmerzte.
»Dann laß mich versuchen, es dir zu beweisen.« Die Stimme war so selbstbewußt. Ja, sie war sich ihrer Macht über ihn sicher.
»Ich höre dir ja zu, oder? Ich habe noch nicht aufgelegt.«
»Warum machst du nicht genau das? Warum legst du nicht auf, gehst hoch in dein Schlafzimmer und nimmst den Hörer da ab? Dort hätten wir es schön bequem.«
Ein
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