Das Lied der Sirenen
Bürgersteig gegangen, hast dir diese Parodien von Liebe und Leidenschaft, für die gewisse Leute auch noch bezahlen, angeschaut. Aber das war es nicht, hinter dem du her warst, nicht wahr? Du hast etwas anderes gewollt, etwas viel Intimeres, etwas, für das du nicht zu bezahlen brauchtest. Tony konzentrierte sich wieder auf die realen Gegebenheiten. Wie hatte Handy Andy auf diese voyeuristischen Eindrücke reagiert?
Du hast niemals eine normale Beziehung zu einem anderen Menschen gehabt. Aber auch die Prostituierten bedeuten dir nichts. Oder die Strichjungen. Du bist nicht darauf aus, solche Leute zu töten. Es interessiert dich nicht, was man mit ihnen tun könnte. Es sind die Pärchen, die deinen Neid erregen, nicht wahr? Sieh mal, das kann ich von mir selbst auch sagen. Stelle ich da jetzt Spekulationen an? Ich denke, nein. Ich glaube, du sehnst dich nach einer Partnerschaft, nach einer idealen Beziehung, in der du dich selbst verwirklichen kannst, in der du so hoch geachtet wirst, wie du meinst, es verdient zu haben. Und dann wäre alles in bester Ordnung. Die Vergangenheit wäre bewältigt, würde nichts mehr bedeuten. Aber sie spielt eine große Rolle, Handy Andy. Die Vergangenheit spielt sogar die ausschlaggebende Rolle.
Tony merkte plötzlich, daß Carol neben ihm stand und ihn neugierig betrachtete. Vielleicht hatte er die Lippen bewegt. Er mußte aufpassen, daß sie ihn nicht auch in eine Schublade mit der Aufschrift »Geistesgestörte« steckte. Das konnte er sich nicht leisten, nicht, wenn er sie lange genug auf seiner Seite behalten wollte, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Im Erdgeschoß des letzten Hauses auf dieser Straßenseite befand sich ein die ganze Nacht über geöffneter Imbiß. Die Fenster waren beschlagen, und drinnen bewegten sich im hellen Licht menschliche Umrisse wie Kreaturen in der Tiefe des Meeres. Tony stieß die Tür auf. Ein paar Gäste schauten auf und wandten sich dann wieder ihren Pommes frites und ihren Gesprächen zu. Tony trat zurück und ließ die Tür zufallen. Ich glaube nicht, daß du jemals hier reingehst, sagte er sich im stillen. Ich glaube nicht, daß du an einem Ort, der für Gemeinsamkeit gedacht ist, als Einzelgänger in Erscheinung treten willst.
Die dritte Seite des Platzes bestand aus mehreren modernen Bürogebäuden. Im Toreingang schliefen obdachlose Jugendliche, zugedeckt mit Kleidungsstücken, Zeitungen und Teilen von Pappkartons. Carol stand jetzt wieder neben Tony. »Hat man diese Leute verhört?« fragte Tony.
Carol verzog das Gesicht. »Wir haben es versucht. Mein Dad liebte Volkslieder. Als ich noch ein Kind war, sang er mir häufig ein Lied vor, dessen Refrain lautete: ›Oh, genausogut kann ich versuchen, den Wind zu fangen.‹ Jetzt verstehe ich, was das bedeutet.«
Sie gingen zu den Häusern auf der vierten Seite des Platzes und kamen an der Ecke an einigen Nutten vorbei. »He, Superman!« rief eine von ihnen. »Ich mach’s dir zehnmal besser als dieses arschlose Miststück!«
Carol lachte schnaubend. »Jetzt bleibt nur zu hoffen, daß die Intuition über die Erfahrung triumphiert«, sagte sie sarkastisch.
Tony äußerte sich nicht dazu. Die Worte waren kaum in sein Bewußtsein gedrungen. Er ging langsam auf dem Bürgersteig weiter, blieb alle paar Schritte stehen und nahm die Atmosphäre in sich auf. Aus den Wohnungen und möblierten Einzelzimmern drangen widerstreitende Musikfetzen in die Nacht. Der Geruch nach Curry hing im Wind, der den Unrat auf der Straße raschelnd verwehte und Fast-food-Styroporschachteln über die Gullys taumeln ließ. Der Platz war, wie Tony feststellte, nie ganz menschenleer. Wieder geriet er ins Grübeln. Du verachtest jedes Lotterleben, nicht wahr? Du willst alles sauber und übersichtlich und geordnet haben. Das ist mit ein Grund, warum du die Leichen wäschst. Wahrscheinlich ist das für dich sogar ebenso wichtig wie das Verwischen aller forensischen Spuren. Er umrundete die letzte Ecke und ging zu Carols Wagen, und zum erstenmal spürte er die Zuversicht, daß er es schaffen konnte, dieses komplexe und unheilvoll verwirrte Gehirn zu entschlüsseln.
»Er hat vermutlich ein paar Minuten im Wagen sitzen bleiben müssen, um sicher zu sein, nicht beobachtet zu werden«, sagte Tony. »Je nachdem, was für einen Wagen er benutzt hat, kann es sein, daß er weniger als eine Minute gebraucht hat, die Leiche rauszuheben und über die Mauer fallen zu lassen. Aber vorher mußte er sich vergewissern, daß ihn
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